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Begegnung zwischen Ost und West /4

Individualität und Nirvana

Wie an Diskussionen zu sehen ist, macht das berühmte Bild vom Aufgehen des Tropfens im Meer (des Nirvana) immer wieder Kopfzerbrechen. Es ist für Europäer schwierig, dieses Bild im östlichen Denkrahmen zu sehen.

 

Versteht man es als das Aufgehen des Ich im Nirvana, und interpretiert es als das Verschwinden des Ich-Bewusstseins, gerät man auf eine völlig falsche Fährte. Im asiatischen Weltbild ist das Ich nichts als ein Konglomerat von Anhaftungen, die auf dem spirituellen Weg bloß im Wege stehen und aufgelöst werden müssen. Der zentrale Begriff ist aber nicht das Ich (wie im Westen), sondern das Bewusstsein. Das Ich muss komplett aufgelöst werden, während das Bewusstsein bestehen bleibt. Das Aufgehen des Tropfens im Ozean bedeutet somit das Aufgehen des begrenzten Bewusstseins im allumfassenden Bewusstsein. Was bleibt, ist also Bewusstheit.

 

Atman ist gleich Brahman

Die Angst der Ich-bezogenen Europäer ist der drohende Verlust der Individualität. Für den Asiaten heißt das nichts anderes, als dass die Anhaftung an die Welt noch dominiert. Dadurch kommt es nicht nur zu einem Missverstehen des östlichen Weltbildes, sondern auch des eigenen Begriffs der Individualität. Individualität hat nichts mit einem bloß bewussten Ich zu tun, sondern ist eine unverwechselbare Ganzheit. Sie umfasst Bewusstes und Unbewusstes, und hat mit dem Selbst und nicht mit dem Ich zu tun.

 

Im östlichen Weltbild müsste man diese Individualität mit Atman übersetzen, und nach der hinduistischen Formel ist Atman gleich Brahman. Das buddhistische Aufgehen im Nirvana ist gleichzusetzen mit der Erkenntnis, dass der Atman (das persönliche Innerste) gleich ist mit dem Brahman (dem kosmischen Innersten). Da geht also nicht das Individuelle „verloren“, sondern wird als kosmisch erkannt. Nirvana deshalb, weil es nicht um ein „Etwas“ geht, sondern um dieses Innerste, das der Welt des Etwas (der zehntausend Dinge) zugrunde liegt, und über das keine positiven Aussagen möglich sind. Der Tropfen muss sich also nicht sagen, um Himmels willen, ich bin verschwunden, sondern wow, ich bin der grenzenlose Ozean. Das – wir würden sagen: individuelle – Bewusstsein kann nicht verschwinden, sondern wird sich seiner Grenzenlosigkeit bewusst.

 

Individualität als Monade (Leibniz)

Als sich im 17. Jahrhundert in Europa das Weltbild durch die Naturwissenschaft auf das messbare Materielle verengte, war es Gottfried Wilhelm Leibniz, der diese Reduktion und Fixierung auf die Außenwelt nicht mitmachte und damit zum Gegenspieler von Descartes und Newton wurde. Seine Monadologie ist uns deshalb so unverständlich, weil unser Weltbild noch immer das Newtonsche Weltbild der klassischen Physik ist, das die Innenwelt vollständig ausblendet. Während wir immer noch in Dingen und Objekten denken, und damit in Fragmenten, ging Leibniz von Ganzheiten aus, die er Monaden nannte. Die Monaden sind sozusagen die psychischen Atome (im ursprünglichen Sinne von a-tomos = das Unteilbare). Sie sind „fensterlos“, nicht weil sie in sich abgeschlossen wären, sondern weil es für das Ganze gar kein Außen geben kann. Jede Monade ist nämlich das Ganze in individueller Perspektive.

 

Damit wird auch klar, was „Individuum“ bedeutet, nämlich dasselbe wie das „Atom“ (sowohl a-tomos als auch in-dividuum bedeutet „das Unteilbare“). Das Individuum hat nichts mit einem Ich zu tun, sondern ist das Atom der psychischen Innenwelt. Wenn wir darunter nur das „Individuelle“ verstehen, geht das verloren, was das Individuum als inneres Atom ist, nämlich das Ganze. Gemeint ist das Universum in individueller Perspektive – oder „du bist das alles“ und „alles ist in dir“. Hinduistisch: „tat twam asi“ – das bist du, oder „atman = brahman“; buddhistisch das Aufgehen (des Bewusstseins) im Nirvana (im All-Bewusstsein).

 

Das westliche Nirvana

Wer geneigt ist, Ost und West als gemeinsame Kulturgeschichte der Menschheit zu betrachten, wird deren Komplementarität anerkennen müssen. Das Symbolbild der Komplementarität ist die chinesische Monade (Yin-Yang): Es sind Gegensätze, die zusammen ein Ganzes bilden, und jede Seite enthält auch die gegensätzliche ansatzweise in sich. Daher gibt es nichts im Osten, das es nicht auch im Westen gibt. Was es im Osten auf breiterer Basis gibt (im Yoga, Buddhismus, Zen, Tantra,…) das gibt es vereinzelt auch im Westen. Man denke nur an Meister Eckhart und verschiedene Mystiker und Mystikerinnen. Auf rationaler Ebene verbindet Leibniz das Ganze mit der individuellen Perspektive. C.G. Jungs Begriff des Selbst, das alle psychischen Grenzen überschreitet, und in dem man sich in der Individuation verliert und findet. Transzendierung des Ich hin zur Selbstwerdung – auch hier verschwinden die Grenzen des Ichbewusstseins. Zu denken wäre auch an Dichter und Künstler – wie z.B. Rainer Maria Rilke, dem zufolge jede/r in sich selber den Welt-Raum schaffen muss, in dem alles enthalten ist.

 

Auch da, in der Erfahrung des Raums (nicht zu verwechseln mit dem physikalischen Raum) des Welt-Innenraums, treffen sich Ost und Welt. Wobei es für die mehr kollektiv und pragmatisch denkenden Menschen im Osten wahrscheinlich einfacher ist, alles – das Ganze – im eigenen Raum des Bewusstseins zu erleben. Das kann aber durchaus auch im Westen zum spontanen Erleben führen, in dem z.B. der Flug eines Vogels nicht mehr im Außen, sondern im Innern erlebt wird und damit die Grenze zwischen innen und außen durchlässig wird oder fällt. Das ist noch nicht das Aufgehen des Tropfens im Meer, aber es geht in die Richtung. Diese Erfahrung weicht die westlich konditionierte Subjekt-Objekt-Spaltung etwas auf. Der äußere Raum für sich ist eine Abstraktion, der Innenraum umfasst das Universum, und Wahrnehmung ist die Beziehung von beidem.