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Begegnung zwischen Ost und West /3

Nichts als Leben…

Was steht noch an? Was ist Yoga? Was ist ein Lehrer? Wie finde ich da hinein?

Wie sage ich etwas (und sagen heißt, etwas festmachen), das nichts ist als Offenheit? Eine Annäherung….

 

Es geht um das Menschsein, es geht um das Leben, Entwicklung, Dynamik. Hier ist das gewohnte statische Denken machtlos. Und nichts darf da zwischen mir und dem Leben stehen: keine Theorie, keine Religion, keine Philosophie.

 

Da kommt mir eine Begegnung der letzten Tage zu Hilfe: die Begegnung mit Rainer Maria Rilke. Er hat wie kein anderer keinen Unterschied gemacht zwischen Leben und Arbeit (dem Schreiben, der Kunst). Und an dieser Diskrepanz hat er sein Leben lang gelitten. Zu wissen, dass etwas zusammengehört, was nicht wirklich zusammenpasst. Liebe(n) und Arbeit gingen nie so richtig zusammen. Beim Versuch, Liebe und Arbeit zu verbinden, stürzte er immer wieder in den Abgrund der Bindungsunfähigkeit. Ohne seine Lieben hätte er nicht arbeiten können, und mit einer Bindung hätte er auch nicht arbeiten können. Immer wieder floh er das, was er wie die Luft zum Leben brauchte….

 

Nicht Einheit, sondern verbinden

Im Begriff Yoga steckt yui, das heißt Joch, verbinden. Es geht um eine Rückverbindung, die auch im Wort religio, Religion steckt. Yoga ist aber keine Religion (könnte in jeder Religion ausgeübt werden), hat nichts mit dem Joch zu tun, sondern mit dem ins Joch spannen, ist kein Sein, sondern ein Tun. Etwas ins Joch spannen bedeutet, etwas zusammenzuführen, was ein äußer(st)er Gegensatz ist, einen Gegenstand (den Wagen) mit etwas Lebendigem (dem Zugtier). Oder von Diesseits und Jenseits (was nur menschliche Vorstellungen sind), von Materiellem und Geistigem. Zu „wissen“, es ist eins, aber dieses „Wissen“ ist kein Sein, (nichts ist schon da, alles ist Entwicklung), sondern ein Tun, Dynamik. Die äußerste Spannung tiefster Ruhe.

 

Zur Erinnerung: Nichts darf da zwischen mir und dem Leben stehen: keine Theorie, keine Religion, keine Philosophie. Schon der Buddhismus ist reinste Pragmatik. Die Frage, ob es Gott, das Jenseits, was auch immer, gibt oder nicht gibt, ist illusorisch. Sinnlos, darüber zu reden. Das Nirvana ist nicht nichts, sondern nicht-Etwas. Sinnlos die Frage, was es ist. „Triffst du Buddha unterwegs, töte ihn!“ Es wäre ein Konzept, das zwischen dir und dem Leben steht.

 

Verwirklichen, was man nicht kennt

Einer, der das in unglaublicher Weise gelebt hat, war Rainer Maria Rilke. Jede Begegnung, ob mit Künstlern wie Auguste Rodin oder seinen Geliebten, alles was er schrieb, war immer er selbst. Sein Leben, sonst nichts. So konnte er drei Buddha-Gedichte schreiben, ohne sich mit dem Buddhismus zu beschäftigen, allein durch einen Dialog mit der Buddha-Statue im Garten Rodins. Das was diese Statue ausdrückte, wurde in ihm – durch sein bisheriges Leben vorgefertigt – lebendig. So musste er nicht Buddhist werden, um doch buddhistischer zu sein als viele, die sich intensiv mit dem Buddhismus beschäftigen. „Sich beschäftigen mit…“ kann (in den meisten Fällen) eine distanzierte intellektuelle Beschäftigung sein. Fruchtbringend wird es erst, wenn es lebendig wird im eigenen Inneren. Dazu braucht man nicht die Philosophie, wie Rilke bewies. Er brauchte nicht die Reden des Buddha, ihm genügte der beredte Ausdruck der Statue, um das, was in ihm schon am Wachsen war, lebendig werden zu lassen.

 

Aber das ist nicht die einzige Annäherung an nicht Gekanntes bei Rilke. Es gibt noch eine andere Annäherung an etwas, für das er keiner Statue bedurfte: die Gebete im ersten Teil des Stundenbuchs. In dem Fall war es die Begegnung mit Lou Andreas-Salome, der mütterlich Geliebten, mit der er sein Leben lang verbunden war durch alle Liebschaften hindurch. Rilke war ein begnadeter Briefeschreiber, sein Briefwechsel ist Grund und Nährboden seiner Poesie.

 

Die Gebete entstanden nach einem sechswöchigen intensiven Zusammensein mit Lou, verflochten mit Erinnerungen aus Russland und Florenz. Die Sprache gleicht der in den Briefen an Lou. Die Sprache der Gebete ist so privat, dass sie die beiden zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmten. Es sind Gebete an Gott (nicht den christlichen Gott, dagegen würde Rilke sich wehren), und zugleich Hymnen an die Geliebte. Das „Objekt“ der Liebe verschmilzt in eins mit dem Unendlichen. Und das ist weit entfernt von einer kitschigen „Vergöttlichung“ der Geliebten. Das passt in die Zeit C.G. Jungs und ist reinster Tantrismus – obwohl Rilke wahrscheinlich nicht einmal diesen Begriff gekannt hat.

 

Von der Anima zur inneren Göttin

In der Terminologie C.G: Jungs ist die psychische Entwicklung (und nichts anderes ist Religion) ein Weg nach innen. Die Integration des Schattens (der verdrängten dunklen Seite) führt zu einem Sinn für das widersprüchlich Lebendige. Das Unbewusste des Mannes ist weiblich. Dieses und zugleich den Führer ins Unbewusste nennt Jung Anima (für die Frau: Animus). Um ganz (heil) zu werden, braucht es das Gegengeschlechtliche. Dieser Archetypus hat eine enorme Bandbreite, kann (z.B. im Märchen) als Hexe auftreten oder als Göttin – und vieles dazwischen.

 

Anima/us tritt uns im Außen als der/die Geliebte entgegen. In einer intensiven Beziehung ist innen und außen nicht zu unterscheiden. Die Idee Jungs war, dass die Archetypen ins Unbewusste (Unendliche, Transzendente) hineinreichen. Da beginnt das, was Yoga oder Religio bedeuten. Die Archetypen können wie eigenständige Persönlichkeiten mit eigenem Bewusstsein (das dem bewussten Sein weit überlegen ist) agieren. In mythologischer Sprache ist das der Bereich der Götter und Göttinnen. Tantra ist die Beziehung zur inneren Göttin (zum inneren Gott) – und das hat noch nichts oder wenig mit (dem christlichen) Gott zu tun – die (der) zum Führer in die Welt jenseits des Bewusstseins wird. Ein Bereich, in dem man zwischen innen und außen nicht mehr unterscheiden kann. („Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe….“).

 

Lebendig werden…

Rilkes Leben war eine ständige Vereinigung und Trennung („Alle meine Abschiede sind getan….“), zwischen Einswerden und Alleinsein. (Wie billig klingt dagegen das esoterische „Alles ist Eins“ – ja und? Den Ist-Zustand zu verleugnen betoniert nur die Ignoranz). In Rilkes Weltbild muss „jeder Einzelne isoliert und einsam in sich selber den Welt-Raum schaffen“[1].

 

Was er nicht geschafft hat ist, seine Geliebte(n) in diesen Raum bleibend hineinzunehmen. Vom Yoga/Tantra her müsste man sagen, es geht nicht darum, diesen Welt-Raum zu schaffen, sondern selbst dieser Raum zu sein, um alle Grenzen aufzulösen. „Das bin ich“ und „Ich bin das alles“… Der Tropfen im Meer, der immer noch Tropfen ist, aber keine Grenzen mehr kennt.

 

Dies ist das Geheimnis des Lebens, um das es Rilke sein Leben lang ging. Nicht in abstrakter Einheit („Alles ist Eins“), sondern in ständiger dynamischer Balance. Und was im christlichen Westen so schwer zu begreifen ist: Wenn man das Erotische aus dem Leben wegnimmt, bleibt nicht viel übrig! Rilke fasst zusammen: „Was ich hervorbringen durfte, dazu haben alle Elemente meines Daseins […] in unbeschreiblicher Gleichgesinntheit zusammengewirkt; Geist, Körper, Seele –, sie waren, als sei keines mehr, keines geringer, jedes köstlich in seiner Art, jedes vertraulich und göttlich zugleich –, und die Leistung ergab sich jedesmal an einem geheimnisvollen Höhepunkt ihrer Eintracht.“  

 

In der Sprache des Yoga/Tantrismus/des Lebens: Übung ist das Leben selbst. In dieser Welt leben heißt, mit dem Material dieser Welt zu arbeiten, um daraus ein Kunstwerk zu schaffen, das etwas über die Welt hinaus zu sagen imstande ist….

 



[1] Gunter Martens und Annemarie Post-Martens: Rainer Maria Rilke, Rowohlts Monographien, 3. Aufl. 2019, S. 141