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Unser Problem mit den Gegensätzen

 

Das Problem der Gegensätze ist ein Problem des Weltbildes, das hinter allem Denken steht. Von zwei gegensätzlichen Aussagen ist entweder die eine oder die anderer richtig, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht – oder darf es nicht geben. Damit ist aber das Lebendige – das Leben, das nach Hegel den Widerspruch in sich trägt – aus der (westlichen) Wissenschaft ausgeschlossen.

 

Das „westliche“ Weltbild ist außerdem ein statisches. Wir durchforsten die Welt nach dem, was ist. Dabei richten wir unseren Fokus auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit – Aristoteles begann mit dem Sezieren von Meerestieren – und schauen, quasi phänomenologisch, auf das, was wir da vor uns haben. (Für seinen Lehrer Platon stand noch der Mensch im Mittelpunkt des Interesses). Die Analyse geht immer weiter und immer tiefer ins Innere der Gegenstände der Außenwelt – bis wir zu den kleinsten Bausteinen der Welt kommen, die sich dann aber in der Quantenmechanik nicht mehr als Bausteine oder kleinste Teilchen entpuppten, sondern als etwas ganz anderes.

 

Ob sich ein Quantenphänomen als Teilchen oder als Welle zeigt, ist abhängig davon, wie wir das Experiment anlegen. Erst dieses subjektive Moment brachte das statische Weltbild ins Wanken. Fakten sind nicht alles, es gibt sie nicht ohne Interpretation. Für „realistische“ Gemüter musste diese philosophische Zutat schnellstens wieder beseitigt werden. Das „shut up and calculate” – man könnte das auch übersetzen mit: „nicht denken, sondern rechnen“ – gab wieder die Absolution, über das Revolutionäre hinwegzusehen und wieder Dienst nach Vorschrift, wie bisher zu machen. Das statische Weltbild ist – scheinbar oder vorübergehend – noch einmal gerettet. Wir können die (Außen-)Welt weiter analysieren, ohne dass das Subjektive, der Mensch, daran beteiligt wäre.

 

Letztlich ist das der Versuch, das Weltbild des 19. Jahrhunderts noch einmal zu retten. Für dieses gelten die zwei Eckpfeiler Lokalität und Realität. Teilchen haben einen Ort (und überhaupt Eigenschaften) unabhängig von einer Messung, und die Welt kann objektiv beschrieben werden, ohne Beteiligung eines Subjekts (Wahrnehmung oder Messung). Dass das in der Quantenphysik nicht mehr gilt, damit konnte sich nicht einmal Einstein abfinden, obwohl er selbst maßgeblich an der Quantenmechanik beteiligt war.

 

Das Ganze und die Teile

Wobei die „Welt“ selbst nicht das Problem wäre. „Welt ist doch so viel mehr als Teilchen in Raum und Zeit“, seufzte schon Erwin Schrödinger. Welt ist also nicht identisch mit dem, was die Physik traditionell untersucht. Das zweite Problem ist, dass wir selbst (und damit das verpönte Subjekt) auch Teil der Welt sind. Damit sind wir immer mit dabei, und die Welt ist nicht wie sie ist, sondern so, wie wir hinschauen. Je nachdem hat sie in der Mikrophysik entweder Teilchen- oder Wellencharakter.

 

Die Physik kommt irgendwann – in der Quantenphysik – darauf, dass Teilchen und Welle eine Einheit sind. Das können wir nicht denken, weil seit Aristoteles Gegensätze unvereinbar sind. Niels Bohr hat deshalb einen neuen Begriff geschaffen, den der Komplementarität: nur beide (Gegensätze) ergeben ein Ganze – das Dritte, das seit Aristoteles ausgeschlossen ist, spielt ab jetzt die Hauptrolle. Teilchen und Welle schließen einander (in unserem Denken) zwar aus, gehören aber untrennbar zusammen. Der Begriff der Komplementarität ist übrigens nicht neu, sondern aus der chinesischen Philosophie, dem Daoismus entlehnt, dem das statische Entweder-Oder-Denken fremd ist.

 

Ein einfaches Bild: Analysieren kann man immer nur einen Ausschnitt der Natur. Und dieser Ausschnitt wurde in der Physik immer kleiner. Das ist so, als würde man von einem Film nur die Standbilder beschreiben, und irgendwann nur mehr einzelne Pixel. Die können noch so klar und exakt sein – der Film ist damit verloren. Die Dynamik des Lebens kann man auf statische Bilder einfrieren – lebendig sind sie nicht mehr. So trennen wir (radikal seit Descartes) Materie und Geist, Körper und Seele, und können uns noch so sehr den Kopf zerbrechen, wie wir das wieder zusammenbringen, es wird nicht funktionieren – das leidige Leib-Seele-Problem. Das können wir nicht lösen, weil es in unserem statischen Weltbild nicht lösbar, und in einem dynamischen Weltbild kein Problem ist.

 

Mythos – die Welt vor der Trennung

Die Welt vor Aristoteles war eine mythologische. Im Mythos gab es diese Trennung noch nicht. Der beseelte Körper war eine Einheit, die „Götter“ waren nicht in einem Jenseits (wie wir das heute unterstellen), sondern quasi mitten unter uns. Es gab nur eine Welt. Daher wurden die Begriffe physis und psyché beinahe synonym verwendet. Die platonischen  Ideen waren keine eigene Welt, sondern das Erscheinen der Dinge. Sic: Das Bild war ein dynamisches!

 

Für unsere aufgeklärte Vernunft ist die Welt des Mythos eine Märchenwelt, die wir im Laufe der Geschichte überwunden haben. Das stimmt schon: Auf dem Weg zur Klarheit des Bewusstseins mussten wir den Mythos zurücklassen. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas und Bewusstsein ist oder sollte Klarheit sein. Damit geht aber (vorübergehend) die Ganzheit verloren. Klar und exakt sind die Standbilder – die Ganzheit, der dynamische, lebendige Film ist damit aber verloren. Es war C. G. Jung, der auf die menschliche Notwendigkeit hinwies, dass wir uns in unserer Entwicklung wieder auf diese Ganzheit zubewegen (müssen). Aber keine Angst, das ist keine Zurückentwicklung (Regression) zum Mythos, sondern eine Weiterentwicklung des Bewusstseins durch die Integration des Unbewussten.

 

Das Bewusstsein hat sich mühsam aus dem Unbewussten heraus entwickelt, und noch immer muss es sich angstvoll gegen das Unbewusste abgrenzen. Dieses verkörpert nicht nur die Herkunft, sondern auch das Grenzenlose, Numinose, Überwältigende, Dunkle und Gefährliche. Daher wird es noch heute zumeist verdrängt.

 

Zwischen Scylla und Charybdis

Bewusstes und Unbewusstes sind damit auch so ein Gegensatzpaar, das in einem statischen Weltbild nicht zusammenpasst. Daher wurde das Unbewusste verdrängt. Das war ein in der Evolution durchaus notwendiger Schritt, weil sich erst das Bewusstsein entwickeln musste. Inzwischen ist aber der nächste Schritt in der Evolution überfällig. Die Hybris des Bewusstseins ist inzwischen pathologisch geworden und kann nur durch die Integration des Unbewussten geheilt (ganz gemacht) werden.

 

Durch die Verdrängung wird der Schatten (das, was wir an uns nicht sehen wollen) übermächtig und das die Menschheit vereinigende kollektive Unbewusste verleugnet. Die Einheit des Ganzen, der innere Zusammenhalt geht verloren, was der Egozentrik (dem isolierten bewussten Ich) Tür und Tor öffnet. Die Evolution ist ein Austarieren zwischen Individualisierung und Sozialisierung. Durch erstere entgeht er dem Herdendasein, durch letztere dem Egoismus. Die Gefahr des Herdendaseins wird heute zunehmend erkannt, die Gefahr des Egoismus zunehmend verleugnet und beschönigt.

 

Daher schlittern wir in eine polarisierte Welt hinein. Es gibt nur mehr schwarz oder weiß, ich und die anderen. Ich bin gut, alle anderen böse, ich habe recht, alle anderen sind dumm. Psychologisch ist das nichts anderes als die Projektion des eigenen (verleugneten, verdrängten) Inneren nach außen. Es ist nicht mein Schatten, sondern die Dummheit, Bösartigkeit usw. der Anderen.

 

In einer derart polarisierten und unbewussten Welt ist es verständlich, dass die Analytische Psychologie nicht verstanden wird, denn da geht es um die Individuation, in der sich Individualität und Sozialität nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. Denn „die Beziehung zum Selbst ist zugleich die Beziehung zum Mitmenschen, und keiner hat einen Zugang mit diesem, er habe ihn denn zuvor mit sich selbst“[1]. Das Selbst ist als Innerstes zugleich das Gemeinsame.

 

 



[1] Die Psychologie der Übertragung, in C.G. Jung: Praxis der Psychotherapie, Edition C.G. Jung, Bd. 16, 3. Aufl. 2011, S. 234