Die spirituelle Szene wird zahlenmäßig von Frauen dominiert, die Guru-Szene von Männern. Warum ist das so?
Wer sich in Kirchen umsieht, wird feststellen, dass immer mehr Frauen als Männer den Messen beiwohnen. In Seminaren, Workshops und Kursen – psychologischer wie spiritueller Art – sind ebenfalls mehr Frauen als Männer anzutreffen.
Andererseits wird die Kirche genauso wie die Guru-Szene seit jeher von Männern dominiert. Frauen sind unter den christlichen Heiligen in der Minderzahl – obwohl es mehr gibt als allgemein angenommen. Wenn von Yogis die Rede ist, reden wir von Männern. Auch da gibt es Frauen, die sind aber eine Minderheit und werden meist übersehen. Das liegt nur einerseits am Patriarchat, das die Rolle der Frau gerne marginalisiert. Es liegt vor allem an der Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Spiritualität.
Das archetypisch Weibliche und Männliche
Das Weibliche (der Ausdruck ist bewusst gewählt, weil Frauen sowohl weibliche als auch männliche Eigenschaften haben) hat eine größere Affinität zum Ganzheitlichen. Das Weibliche muss sich nicht ganz von der Ur-Einheit (der Großen Mutter – die auch das Männliche noch ungetrennt in sich einschließt), in der das Weibliche, Gebärende im Vordergrund steht, trennen. Das Weibliche muss damit die Verbindung mit der Ur-Einheit nie ganz aufgeben (was Erich Neumann in seinen Büchern ausführlich dargelegt hat). In der Entwicklung des Einzelnen müssen sich die Kinder von der Mutter abnabeln, die Tochter bleibt ihr in ihrer Weiblichkeit aber nahe, während der Sohn sich von der Mutter distanzieren muss, um sich in seiner Männlichkeit zu finden. Für die Frau ist die Ur-Einheit (die Große Mutter) das Fremde in mir, für den Mann ist es das getrennte Fremde außer mir.
Von daher hat die Frau einen ganz anderen, intimeren Zugang zum Spirituellen. Das Ganzheitliche, das Männliches und Weibliches in Einheit umfasst, ist ihr näher als dem Mann, der sich in seiner Entwicklung von der Einheit mit der Mutter lösen, abtrennen musste. Der Frau fällt es daher leichter, die Ganzheit in sich zu finden, während der Mann sie im „außen“ suchen muss. Daher ist Gott (der Archetypus des Ganzen, des Selbst) in den männlich dominierten Religionen „außen“, irgendwo im „Himmel“ angesiedelt, und der Zugang problematisch bis schwierig. Daher werden Sätze wie „Das Himmelreich ist inwendig in euch“ von der männlich dominierten Kirche ignoriert. Daher braucht es für den Mann eine Vermittlung zwischen ihm und dem Unendlichen, nämlich die (weibliche!) Kirche.
Unterschiedliche Wege
Andererseits erfordert der Weg zur Ganzheit (die Individuation bei Jung) die Vereinigung von Männlichem und Weiblichem. Die schaut für den Mann wiederum anders aus als für die Frau. Prinzipiell ist es ein Weg nach innen, in die Tiefen der eigenen Seele/Psyche. Nach C. G. Jung ist das Unbewusste, die Seele des Mannes (die Anima) weiblich. Der Weg zur Großen Mutter, zur Vereinigung der Gegensätze in der Ur-Einheit, führt für den Mann über das eigene (weibliche) Innere. Das wäre einfach – hätte er sich nicht in seiner Entwicklung vom Weiblichen, von der Mutter (und damit aber auch von seinem eigenen Inneren) lösen müssen. Damit hat er den Zugang zu seiner eigenen inneren Weiblichkeit verloren. Der Mann ist fixiert auf das bewusste Ich – das eigene (weibliche) Unbewusste ist ihm fremd. Daher ist ihm sein eigenes Inneres, sein eigenes Unbewusstes fremd – viel mehr als der Frau.
Vom männlichen Ich aus gesehen ist das Unendliche (Gott) nicht nur fremd, sondern auch außen. Auch sein Unbewusstes ist, vom Ich aus gesehen, außerhalb. Im konkreten Leben führt für den Mann der Weg zum eigenen (weiblichen) Inneren über die Begegnung mit einer konkreten Frau. Auf die kann er sein Inneres projizieren und somit im außen seine innere, unbekannte Psyche anschauen und erkennen. Kommt ein Wir zustande, beginnt eine gemeinsame Entwicklung, in der sich für beide Projektion und Realität annähern können.
Für das Weibliche liegt die Ur-Einheit (als Große Mutter) näher. Der konkrete Weg zur Ganzheit führt auch für die Frau über die Vereinigung von Männlichem und Weiblichem. Sie erfährt aber über die Große Mutter auch das (in der Großen Mutter noch nicht getrennte) Männliche unmittelbar – als das Überwältigende, Eindringende, Überpersönliche. Sie ist somit nicht so sehr auf die Begegnung mit einem konkreten Mann angewiesen wie der Mann auf die Frau. Und sie wird in jedem Mann zuerst das Ur-Männliche sehen (wollen), auch wenn der konkrete Mann dem gar nicht entspricht.
Damit wird klar, dass es nicht darum geht, welcher Weg leichter ist – jeder hat seine Vorteile und seine Tücken. Für den Mann läge der Vorteil darin, dass sein Weg nach innen in die Weiblichkeit führt. Die Gefahr liegt darin, dass er den Zugang zu seinem Inneren gar nicht findet und das Weibliche nur im Außen sucht – dass er am optischen Äußeren hängenbleibt und auch das Innere der Frau nicht sieht. Der Vorteil des weiblichen Weges läge darin, dass sie von vornherein der Ur-Einheit näher ist und sie nicht unbedingt im Außen suchen muss. Die Gefahr liegt darin, dass sie vom Ur-Männlichen überwältigt wird und den realen Mann oft gar nicht sieht.
Männlicher und weiblicher Geist
Frauen liegt der spirituelle Weg näher, weil sie die Ur-Einheit in sich haben – auch wenn sie verdeckt ist, aber eine innere Resonanz ist immer da. Daher finden wir in der religiösen wie spirituellen Szene mehr Frauen als Männer. Die Guru-Szene wird dagegen von Männern dominiert, weil das ihrem männlichen Machtstreben entgegenkommt. Sie sehen den Weg als Ermächtigung, jede Einweihung ist eine Zunahme an Macht – zunächst über sich selbst, aber dann oft auch über andere. Das kann dann sehr leicht zum Machtmissbrauch bis hin zu (sexuellen) Übergriffen führen.
Bei spirituellen Frauen spielt Macht keine wesentliche Rolle. Nicht das Dominierende, sondern das Verbindende steht im Vordergrund. Das drückt sich bis hin in die Symbolik des Geistigen aus. Der männliche Geist wird durch die Sonne symbolisiert, die den Tag, das Bewusstsein beherrscht. Am Abend „stirbt“ sie und geht in die Unterwelt, um am Morgen neu wiedergeboren zu werden. In Ägypten ist Horus, „der oben Befindliche, der Ferne“. Der weibliche Geist wird durch den Mond symbolisiert, der die Phasen des Zu- und Abnehmens, des Stirb und Werde und der Gesetze der irdischen Natur in sich trägt.
Der männliche Geist steht im Gegensatz zum Irdisch-Materiellen. Der weibliche Geist umfasst das Oben und Unten, das Geistige und Materielle, das Himmlische und das Irdische. Die männliche Spiritualität strebt nach höherem Bewusstsein – und vergisst oft, das Unbewusste zu integrieren, das ihm dann in den Rücken fallen kann. Weibliche Spiritualität strebt nach dem Ganzen, der Ganzwerdung, die von vornherein bewusst und unbewusst, oben und unten, Himmlisches und Irdisches, Geist und Körper berücksichtigt und vereint.
Der „weibliche“ Weg
Spiritualität und Religion ist – für Frauen wie für Männer – ein weiblicher Weg. Der männliche Weg sucht das Ziel im „Oben“, strebt nach Erleuchtung, nach höherem Bewusstsein – und bleibt dann oft im Bewusstsein und im Ich stecken. Das archetypisch Männliche ist trennend, fragmentierend, und sucht das Ziel im ganz anderen. So ist das erste Hindernis auf dem männlichen spirituellen Weg das Elite-Denken, das sich besser Fühlen als die anderen. Das ist keine erreichte Stufe, sondern eine Falle. Die Einteilung in Stufen, die erreicht werden müssen – und wo man sich über diejenigen, die noch in einer unteren Stufe sind, erhaben fühlen kann – ist ebenso bloß eine Falle. Dem weiblichen Geist, der das Verbindende über das Trennende stellt, würde so etwas nicht einfallen. Natürlich können auch Frauen auf dem „männlichen Trip“ unterwegs sein, wenn sie zu sehr ihrem Animus verfallen sind.
In der Religion geht es dem Männlichen um die Anbetung eines überirdischen Wesens, dem Weiblichen geht es dagegen um eine innere Beziehung zum Unendlichen, wobei „das Himmelreich inwendig“ ist. Verständlich, dass Frauen sich auf dem weiblichen spirituellen Weg wohler oder mehr zuhause fühlen als Männer, die krampfhaft einen männlichen Weg zum Unendlichen finden wollen, der aber in die Fremde führt und nicht in ein Zuhause. Außerdem müssen Männer auf diesem (bewussten, männlichen) Weg ihre Anima verleugnen – was im Patriarchat und in der Kirche zur Abwertung des Weiblichen und der Frau geführt hat. Damit haben sie nicht nur den Frauen, sondern auch sich selbst geschadet, weil sie letztlich nur über das Weibliche zur Ganzheit kommen können.
Auch im Buddhismus gibt es diese zwei Wege: einerseits das Hinayana und der Zen-Buddhismus, wo es in erster Linie um die eigene Erleuchtung, um das Eingehen ins Nirvana geht, andererseits das Mahayana mit dem Bodhisattva, der an der Schwelle zum Nirvana umkehrt, um alle Wesen zum Ziel zu führen.
Egozentrik und Selbstaufgabe verhindern Beziehung
Im Westen geht es um den zu vereinenden Gegensatz oder die Komplementarität von Individualität und Gemeinschaft, um Subjekt/Objekt (männliches Fragmentieren) oder um (archetypisch weibliche) Beziehung. Anders ausgedrückt um Selbstliebe und Nächstenliebe – oder auch Selbstliebe und Liebe zum Unendlichen. Das eine geht nicht ohne das andere.
Auch in menschlichen Beziehungen muss sich Selbstliebe und Liebe zum anderen die Waage halten. Die Gefahr des männlichen Fragmentierens liegt im Egoismus (bis hin zum Missbrauch und Instrumentalisieren der Frau), die Gefahr des weiblichen Verbindens liegt im Aufgehen im anderen und der Selbstaufgabe. Ein sehr einseitiges weibliches Ideal, das aber auch nicht der weibliche, sondern ein spiegelbildlicher männlicher Weg ist. Die weibliche Fürsorge wird unterlaufen vom männlichen Fragmentieren und die Selbstaufgabe torpediert die Beziehung genauso wie die (männliche) Egozentrik.