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Kind und Gott – oder „das Göttliche Kind“

 

Wir alle leben in einer gespaltenen Welt – wir mussten uns aus der Ur-Einheit mit der Mutter lösen und uns auf den Weg in die Welt machen. Wir mussten die allmächtigen und allwissenden Eltern vom Thron stürzen und zum verlorenen Sohn, zur verlorenen Tochter werden. Wobei die Tochter als auch weibliche Person sich nie ganz aus der Ureinheit mit der Mutter lösen muss, während der Sohn sich ganz abgrenzen und damit fragmentieren muss.

 

Beide müssen an ihrem Ich(-Bewusstsein) arbeiten, sich zunächst abspalten und dann in Beziehungen das „Fehlende“ (das Gegengeschlechtliche – im außen und innen) suchen und ergänzen. Ziel dieser Entwicklung, die Jung Individuation nannte, ist es, die ursprüngliche Ganzheit wiederzuerlangen – aber diesmal bewusst.

 

Soweit die Theorie. Was die konkrete Situation betrifft, müssen wir uns schmerzlich eingestehen, wir sind bestenfalls irgendwo auf dem Weg dahin oder im schlimmsten Fall irgendwo steckengeblieben sind. Erschwerend kommt hinzu, dass wir in einer veräußerlichten Welt leben und das eigene Innere zu den letzten weißen Flecken auf unserer Landkarte gehört. Und das auch, weil wir die Tiefenpsychologie ein Jahrhundert nach ihrem Entstehen immer noch ignorieren…

 

Vom Mythos zum Logos

Kulturgeschichtlich leben wir im christlichen Europa – und zwar Religiöse und Atheisten gleichermaßen. Psychologisch gesehen geht es um einen Mythos, um ein archetypisches Geschehen – Archetypen als Grundmuster der menschlichen Psyche. Konkret geht es um den Mythos des „Göttlichen Kindes“ (den es in allen Kulturen gibt). Der neue (christliche) Mythos entstand in einer Zeit, in der es bereits zu einer Spaltung des Weltbilds gekommen war. Bis zur Zeit Platos lebte die Antike im Zeitalter des Mythos. Es gab keine Trennung zwischen außen und innen (die Natur war „beseelt), kein Diesseits und Jenseits (die Götter waren nicht über, sondern in der Welt), keine Trennung von Materie und Psyche – die kam erst später durch die Beschäftigung mit der Außenwelt, die mit Aristoteles, dem ersten Biologen, begann.

 

Im Übergang vom Mythos zum Logos – eine Entwicklung zu mehr Bewusstheit, aber auch zum Verlust der Ganzheit – begann die Welt zu zerfallen: in ein Außen und Innen, Diesseits und Jenseits, bei Aristoteles die Welt unterhalb und oberhalb des Mondes. Symbolisch ist dieser Weg ein Weg zur Vermännlichung (Bewusstsein ist männlich, das Unbewusste weiblich) – der Weg in das Patriarchat, in die Abwertung des (beim Mann abgespaltenen) Weiblichen, Seelischen. Weshalb wir heute in einer patriarchalen, seelenlosen Gesellschaft leben.

 

Ein heilsamer Archetypus

Ein halbes Jahrtausend danach (zur Zeitenwende) konstellierte sich (in der Sprache C. G. Jungs) der Archetypus des Göttlichen Kindes, der die Spaltung aufheben sollte oder könnte. Er vereint die äußersten Gegensätze: das hilflose Kind und den allmächtigen Gott. Was die wenigsten verstehen, in den Religionen geht es nicht um Gott oder Götter, sondern um uns! „Jesus hat uns gezeigt, was Menschsein bedeutet“ (Matthias Beck).

 

Die Evolution ist eine Evolution des Bewusstseins um den Preis des Verlusts der ursprünglichen Einheit – Bewusstsein braucht immer ein Gegenüber, muss spalten, ist aber auch die Verbindung des Gespaltenen. Bewusstsein trennt zwischen Subjekt und Objekt, ist aber „in Wirklichkeit“ das Wahrnehmen, das beides in Einheit umfasst. Wir denken aber noch immer in den Kategorien von Subjekt und Objekt. Wie abstrakt die sind wird erst bewusst, wenn wir das Wahrnehmen reflektieren.

 

Kind und Gott

Wenden wir uns dem Konkreten zu, wobei wir Grundmuster ansprechen (müssen), um etwas deutlich zu machen und kommunizieren zu können. Bei konkreten Menschen wird es immer um ein Kontinuum von mehr oder weniger gehen.

 

Gehen wir von den Extremen aus, dann gibt es Menschen, die sich als Kind sehen, und andere, die sich als Gott sehen. Als Kind ist man dem Übermächtigen (den Elternarchetypen) ausgeliefert, ist selbst ohnmächtig und hilflos, ein Spielball der Welt und des Schicksals. Oder man erlebt es „positiv“: Man muss sich an nichts halten (kindliche Anarchie), man wickelt die Eltern um die Finger, manipuliert sie bis zur Erpressung, lernt zu instrumentalisieren und so immer zu bekommen, was man gerade will. Was dann auch in Beziehungen gefordert wird.

 

Das ist dann schon der Übergang zum Gottsein. Ich bin allmächtig, bekomme alles, was ich will, alles und alle stehen mir zu Diensten, und damit degradiere ich alle zu Untergebenen, die manipuliert und instrumentalisiert werden können, wobei das Menschliche und Seelische unter den Tisch fällt, Menschen zu Gegenständen degradiert werden. Das ist auch ein gewaltiger Energieaufwand, denn ich muss die anderen immer runtermachen, erniedrigen, entmenschlichen, um den Status als Gott aufrechtzuerhalten.

 

Im Extremen gibt es Menschen, die beide Archetypen bedienen: sie halten sich für Kind und Gott. Als Kind können sie alles ausleben, ohne die Verantwortung übernehmen zu müssen, und als Gott sind sie unfehlbar, vollkommen und brauchen sich nicht zu entwickeln. Dass sie damit auf lange Sicht nicht durchkommen, wischen sie weg, indem sie an allem, was schiefgeht, den anderen schuldig machen. Kein Wunder, dass man sich an solchen Menschen die Zähne ausbeißt!

 

Einheit der Gegensätze

Der Sinn des (heilsamen) Archetypus des Göttlichen Kindes ist es, diese extremen Gegensätze zu vereinen: Das Höchste ist nur dann lebendig, wenn es auch das Niedrigste umfasst. Hochmut wird durch Demut neutralisiert, und so ist der Weg frei für die Individuation, für den Weg zur Ganzheit der Psyche. Der Weg führt vom Ich zum Selbst, und das ist grenzenlos.

 

Das Kind wird im Stall, mitten in dieser chaotischen Welt geboren – oder in einer Höhle, im Unbewussten. (Weltflucht und Jenseitsausrichtung sind völlig verkehrt). Zwischen Ochs und Esel, dem gezähmten (nicht verleugneten) Tierischen in uns. Die Hirten, die in der Nacht wachen, d.h. ihr Bewusstsein aufrechterhalten, sind genauso dabei wie die Weisen aus allen Teilen der Welt – es ist kein lokales, sondern ein universales Geschehen. Das alles geschieht in Bethlehem (Bethlehem = Haus des Brotes, der geistigen Nahrung). Und da es sich um einen Archetypus handelt, geschieht es in unserer Psyche, und verbindet das Höchste und Niedrigste in uns, versöhnt es und integriert es zu einem lebendigen Ganzen.

 

 

So wie Jesus (als Archetypus des Göttlichen Kindes) ganz Mensch und ganz Gott ist, und zwar nicht getrennt, so kann ein Mensch unter diesem Archetypus ganz kindlich und ganz göttlich sein. Ganz Kind, indem er/sie sich das Kindliche, das innere Kind bewahrt, mit all seiner spielerischen, schöpferischen, kreativen Potenz, und indem er/sie auf das Unendliche, Göttliche ausgerichtet ist, auf das Grenzenlose in uns, das nie ausgelotet werden kann.