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Der Schatten des „Hier und Jetzt“

 

Der Mensch verdrängt gerne alles Negative und baut sich eine heile und rosige Welt, in der er sich genüsslich niederlassen kann. Vieles, was unter Esoterik läuft, ist nach diesem Muster gestrickt. Auch in den Religionen heißt es nur zu oft: Ich muss ein guter Mensch werden – statt: Ich muss meine dunklen Seiten bewusst machen, integrieren und verwandeln. Aber das klingt zu komplex, zu mühsam und zu anstrengend….

 

Das kommt auch daher, dass wir vom Lebendigen verlangen, so zu funktionieren wie die sogenannte tote Materie. Auf die kann man unsere aristotelische Logik anwenden, auf Lebendiges nicht. Im Außen ist etwas so ODER anders, im Psychischen ist es so UND anders. Als psychotherapeutisch Tätiger muss man das Gegenteil einer Erkenntnis immer auch im Auge haben. Und für tiefe Wahrheiten gilt das sowieso.

 

Achtsamkeit und Lebendigkeit

Das „Hier und Jetzt“ hat als Achtsamkeit durchaus seine Berechtigung und ist es wert zu üben. Das heißt aber, die Aufmerksamkeit auf das momentane Tun zu konzentrieren und nicht Teile der Persönlichkeit auszublenden. Was viele als „Hier und Jetzt“ verstehen, ist nichts anderes als ein Verdrängen der Biografie und damit ein Verdrängen dessen, was lebendig ist und bleiben sollte. Ergebnis ist dann nicht fokussierte Lebendigkeit, sondern mehr oder weniger fanatische, jedenfalls statische Mechanik, die man als inhaltsleere Doktrin auch anderen umhängen will.

 

Man bedient damit genau das statische Weltbild, das man an den „normalen“ Menschen kritisiert, und ist damit noch weit verblendeter als diese. Der Mensch ist kein Punkt auf einer Linie, sondern er ist ein Gewordener und Werdender. Das Fokussieren im „Hier und Jetzt“ kann daher nicht ein sich Verschließen vor Vergangenem und Zukünftigem sein, sondern nur ein Hereinnehmen des Vergangenen und Zukünftigen in den jetzigen Moment. Damit wird dieser eine Moment alles umgreifend – zeitlos. Um diese Zeitlosigkeit geht es, und nicht um das sich Verschließen gegen Vergangenheit und Zukunft.

Das ist der Unterschied zwischen statischem und dynamischem Denken. Das Statische grenzt aus und tötet alles Lebendige. Das Dynamische schließt alles ein und bleibt im Moment immer Bewegung, immer lebendig.

 

Anschauliches Beispiel ist der berühmte fliegende Pfeil: Ich kann genau berechnen, wo er zu welchem Zeitpunkt steht – nur, er steht in Wirklichkeit nie! Bewegung kann nicht in einem statischen Punkt festgehalten werden. Ich kann an einem Punkt stehen und den Pfeil vorbeifliegen sehen, als unscharfes Muster im Gegenwärtigen, das die ganze Energie der Bewegung in sich trägt und ist.

 

Verleugnung der Dynamik

Das hysterische „Hier und Jetzt“-Geschrei ist meist nichts als die Verleugnung der Bewegung. Durch das sich Isolieren von Vergangenheit und Zukunft wird nur das gestärkt, was angeblich überwunden werden soll: das Ego. Das Ego ist das sich abgrenzende Ich, abgrenzend von den anderen (denen man ja haushoch überlegen ist), und abgrenzend von Vergangenheit und Zukunft, damit vom lebendigen Gewordensein und Werden. Damit hat man unter dem Deckmantel der Spiritualität das alte, materialistische (unlebendige) und statische Weltbild, dem man entkommen wollte. Das Ausgrenzen stärkt das Ego, das nichts anderes ist als das Ich, das sich künstliche Grenzen setzt.

 

Die Überheblichkeit mancher „Spiritueller“ ist nichts als das auf die Spitze getriebene Ego. Man will nach dem Licht streben und ignoriert, dass jedes Licht Schatten hervorbringt. Aus diesem Gewebe von Licht und Schatten besteht diese Welt. Wer nur nach dem Licht greifen will, der verleugnet die Welt – und belügt sich selbst, indem er glaubt, sie damit überwunden zu haben. Was ich „überwinden will“, muss ich aber zuerst annehmen. Ich muss von der Realität ausgehen und darf sie nicht leugnen.

 

Lebendig/entwicklungsfähig bleiben

Ich muss die Konditionierung der Gegenwart durch die Vergangenheit und Zukunft sehen und damit arbeiten. Nur ein Beispiel: Wer sein inneres Frauen- oder Männerbild (Anima oder Animus) nicht bewusst macht und bearbeitet und mit der Realität, mit dem Partner vergleicht, der wird in der Spirale des ewig Gleichen steckenbleiben. Es IST so und damit geht jede Dynamik, jede Entwicklung verloren. Daraus kann nie etwas (Neues) WERDEN.

 

Sich mit der eigenen Biografie zu beschäftigen ist nicht Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern Beschäftigung mit der Gegenwart (als Ergebnis der Vergangenheit). Geändert wird nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Diese wird damit aber aus der Erstarrung befreit und zur Dynamik, zur Entwicklung befähigt. Symbolisch wird das Materielle verflüssigt. Und damit verlebendigt.

 

 

Und erst aus dieser Lebendigkeit heraus macht die Frage nach dem „Hier und Jetzt“ überhaupt Sinn. Weil es nicht mehr um Ausgrenzung (von Vergangenheit und Zukunft) geht, sondern um das lebendige Ganze, das alles einschließt…