Komplementäre Charaktere – Charakter des Komplementären

Es ist ein Kunstgriff der psychologischen Erzählungen, die wir Märchen nennen, zwei gegensätzliche Charaktere zu schildern, die eigentlich zwei Seiten einer Persönlichkeit beschreiben. Etwa die fürsorgliche Mutter und die dämonische Hexe in „Rapunzel“, oder „Schneeweißchen und Rosenrot“, oder die zwei Brüder im gleichnamigen Märchen[1]. Wer religiöse Bücher so liest, wie sie zu lesen sind, nämlich als einen selbst betreffend, wird zugestehen, dass z.B. sowohl Abel, als auch Kain in ihm sind, dass Ägypten, das Gelobte Land und die Wüste dazwischen die Zerbrochenheit des eigenen menschlichen Lebens darstellen.

 

Der Mensch ist ein in sich gegensätzliches Wesen. Diese Gegensätze schließen einander zwar aus, sind aber beide notwendig für das Menschsein als Ganzes. Genau das ist die Definition der Komplementarität, ein Begriff, den Niels Bohr für die Quantenphysik und C.G. Jung für die Analytische Psychologie aus Asien, vom Daoismus importiert haben. Man kann nämlich die aristotelische Logik, die uns zweieinhalb Jahrtausende begleitet hat, zwar auf die Welt, aber nicht auf Lebendiges und nicht auf den Menschen anwenden. Von gegensätzlichen Aussagen kann nur eine wahr sein, besagt diese Logik. Doch Leben ist immer gegensätzlich, und keine Seite kann eliminiert werden, weil sie trotz Gegensätzlichkeit zusammengehören.

 

Komplementarität im Leben

Den Menschen kann man in vielfacher Hinsicht als komplementär betrachten, im Folgenden als das Verhältnis von außen und innen oder (symbolisch!) „männlich“ und „weiblich“. Im Leben treffen wir diese komplementäre Konstellation in den vielfältigen Beziehungen an, in denen sich – bei aller Gemeinsamkeit – Gegensätze anziehen. Das können Partnerbeziehungen genauso wie Freundschaftsbeziehungen sein.

 

Letztere gibt es auch unter Wissenschaftlern. Eindrucksvolles Beispiel sind die Physiker Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli. Beide 1900 geboren, studieren sie auch gemeinsam. Aber während der naturverbundene Heisenberg die Wochenenden wandernd in den Bergen verbringt, macht Pauli die Münchner Bars nächtlicherweile unsicher und lässt sich dort inspirieren. Ein ähnlich komplementäres „Paar“ sind einige Zeit später der saloppe, immer lässig gekleidete Richard Feynman und der stets geschniegelte Murray Gell-Mann.

 

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“, seufzte schon Goethe im Wissen um die Gegensätzlichkeit der menschlichen Psyche. Bohr und Jung holten zeitgleich und unabhängig voneinander die Komplementarität des Daoismus (der kein Entweder-Oder kennt) in unsere Kultur. Yin und Yang – das duale Gesetz der endlichen Welt. Damit sind alle (zusammengehörenden) Gegensätze der Welt gemeint, symbolisiert auch als „männlich und „weiblich“. Nicht identisch mit Mann und Frau, denn diese sind wiederum (wie alles in der Welt) eine je individuelle Mischung aus beidem. Aber – so C.G. Jung – das Unbewusste des Mannes ist weiblich, das Unbewusste der Frau männlich. Der Sinn einer Partnerbeziehung ist es auch, einen Zugang zum eigenen gegengeschlechtlichen Anteil der Psyche zu bekommen, der auf den Partner projiziert sichtbar werden kann. Das fragmentierende, männlich objektivierende Denken kann so durch das empathische, weibliche Beziehungsdenken ergänzt werden – oder eben umgekehrt.

 

Die Sensibilität der Künstler

Jeder Mensch – ob Mann oder Frau – hat diese Gegensatzspannung in sich. Besonders ausgeprägt ist das in Künstlernaturen, vor allem weil sie sensibler für diesen Gegensatz sind als andere. (Männliche) Künstler gehen daher oft aus einer weiblich dominierten Kindheit hervor, geprägt von einem Mutterkomplex, überzeichnet aus einer dominierenden, oft übergriffigen Mutter und einem inferioren oder fehlenden Vater. Dies gilt für Antoine de Saint-Exupéry, für Rainer Maria Rilke oder auch für Friedrich Nietzsche. Spiegelbildlich für Lou Andreas-Salomé – passenderweise Freundin von Nietzsche und Rilke – die unter Brüdern aufgewachsen ist und deren Mutter nahezu keine Rolle gespielt hat.

 

Rilke behauptete schon als Kind, er habe eine „weibliche Seele“. Das gilt zwar psychologisch für alle Männer, aber Rilke lebte aus den Tiefen seiner Seele wie kaum ein anderer. Und Lou Andreas-Salomé war die ideale Seelenpartnerin, die sich von ihm trennte, ihm aber bis an sein Lebensende verbunden blieb. Rilke litt ein Leben lang unter der Spannung zwischen seinem tiefsten Innersten und dem konkreten Leben. Sein Drang, diese Spannung in seiner Kunst auszudrücken, war mächtiger als sie im konkreten Leben zu verwirklichen. Weshalb er alle seine zahlreichen Liebschaften nach kurzer Zeit beendete. Was ihm in seiner Kunst, trotz Selbstzweifel und Depression, in unvergleichlicher Weise gelang, war ihm im Leben versagt[2].

 

Ein anderer, der mit diesen inneren Gegensätzen „spielte“, war Hermann Hesse. Er wendete denselben Kunstgriff (der Märchen) in seinen Erzählungen an und schilderte oft zwei gegensätzliche Charaktere (z.B. Narziss und Goldmund), die man auch als widerstreitende Anteile der Psyche in einem Menschen (oder im Autor) sehen kann. Hesse hatte zwar – immer widerwillig – dreimal geheiratet, aber auch er zweifelte immer daran, ob ein Künstler überhaupt zu einer Ehe fähig sei. In einem Brief an Theodor Heuss (21.11.1910) erklärt Hesse, dass sein Roman „Gertrud“ „von der schwierigen Balance handelt, die im echten Künstler zwischen Liebe zur Welt und Flucht vor der Welt einerseits, andererseits zwischen Befriedigung und Durst beständig vibriert [3].

 

Souveräne Balance

Lou Andreas-Salomé [4], die spiegelbildlich in einer männlichen Familie – in einer ohnehin patriarchalen Welt unter fünf Brüdern aufgewachsen ist, zeigt einerseits, wie extrem sich so etwas auswirken kann, aber andererseits auch, wie man das (zumindest besser als die genannten männlichen Beispiele) integrieren kann. Sie war derart von dieser Welt geprägt, dass sie Männer immer nur als Brüder gesehen hat, dass sie bis in ihr viertes Jahrzehnt Männerbeziehungen nur unter Ausschluss der Sexualität leben konnte. Selbst ihren Mann, den Orientalisten Friedrich Carl Andreas, heiratete sie nur unter der Bedingung, dass es keine sexuelle Beziehung ist. Erst der empfindsame und um einiges jüngere Rilke (der sie damit nicht an Vater oder Brüder erinnerte) konnte diesen Bann brechen. Aber nur die „platonische“ Ehe mit Andreas hielt ein Leben lang. Alle (für andere) „normalen“ Beziehungen scheiterten.

 

Lou Andreas-Salomé ist ungerechterweise nur als die Freundin von Nietzsche und Rilke bekannt, ist jedoch für sich eine faszinierende Persönlichkeit. Sie war selbst eine renommierte Schriftstellerin, sie war, was man heute eine starke und emanzipierte Frau nennt – die sich aber auch von der damals entstehenden feministischen Bewegung nicht vereinnahmen ließ. Sie war eine der ersten Schülerinnen Sigmund Freuds und eine der ersten Psychotherapeutinnen, behielt sich aber auch da ihre eigene Meinung und ging beispielsweise auch zu den Treffen mit dem „abtrünnigen“ Alfred Adler.

 

Psychologisch gesprochen bedeutet diese für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Eigenständigkeit, dass sie ihr „männliches“ Unbewusstes beherrschte wie kaum eine andere. Dass auch in ihr Eros und Logos im Widerstreit lagen, doch ließ sie es nicht auf einen Kampf ankommen. Lange Zeit hielt sie das Sexuelle auf Distanz, so dass sie davon ungestört sich dem Logos widmen konnte und damit eines Nietzsche, Rilke und Freud mindestens ebenbürtig wurde. Später unterschied sie zwischen erotischen und asexuellen Beziehungen.

 

Insgesamt führte sie damit ein souveränes, emanzipiertes Leben, das sie aus allen Gesellschaften, in denen sie sich bewegte (ob schriftstellerische, künstlerische, philosophische, wissenschaftliche, psychoanalytische), heraushob. Sie ist immer einen eigenständigen Weg gegangen, der für sie stimmig war.

 

Leben ist Beziehung

Natürlich geht jede/r seinen/ihren individuell eigenen Weg. Aber Leben ist das, was den Widerspruch in sich trägt und aushält, formulierte schon Hegel. Wer sich nur an der eigenen Oberfläche bewegt, merkt davon weniger, wer aber – wie es Künstlernaturen tun – in die Tiefe geht und sich mit den eigenen Abgründen und denen des Lebens konfrontiert, oder wie Rilke aus der Tiefe des eigenen Seins lebt, der ist nahezu gezwungen, sich mit diesen Abgründen auseinanderzusetzen, sie zu integrieren – oder sich zermalmen zu lassen.

 

Für „Normalsterbliche“ hat das Leben die Beziehungen vorgesehen. In Partnerschaften kann man das eigene Innere (als Anima oder Animus) nach außen projizieren, wo es uns sichtbar entgegentreten kann. Das gilt übrigens für homosexuelle oder lesbische Beziehungen genauso wie für heterosexuelle. Auch in homoerotischen Beziehungen ist der eine Partner mehr „weiblich“, der andere mehr „männlich“.

 

Es ist damit allerdings eine Aufgabe verbunden: nämlich Projektion (Anima/us) und Realität (Partner/in) immer mehr in Resonanz zu bringen. Hinderlich ist dabei unser immer noch statisches Weltbild, denn so etwas ist nur als Prozess realisierbar. Als bloß gemeinsames Sein ist jede Beziehung früher oder später zum Scheitern verurteilt. Nur dynamisch, in einer gemeinsamen Entwicklung kann Beziehung lebendig bleiben.

Zur Krise kommt es, wenn nur ein Teil sich weiterentwickelt, während der andere in seiner Persönlichkeit gleichbleibt. Dann tritt das, was nicht (mehr) passt – oft getriggert durch spezielle Situationen wie kürzlich Weihnachten oder aktuell die Covid19-Krise – immer deutlicher zutage. Daran kann eine Beziehung zerbrechen – oder man schafft es, sie wieder ins gemeinsame Fließen, in die Dynamik zu bringen…

 

Damit sind psychotherapeutische und philosophische Praxen in diesen Zeiten verstärkt konfrontiert.

 



[1] Siehe Eugen Drewermann: Landschaften der Seele, Bd. 1-4, Patmos Verlag 2015

[2] Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen. Biografie eines Liebenden. Piper Verlag, 3. Aufl. 2019

[3] Michael Limberg: Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung. Suhrkamp BasisBiografie, 2. Aufl. 2016, S 88

[4] Siehe z.B. Michaela Wiesner-Bangard und Ursula Welsch: Lou Andreal-Salomé. „Wie ich Dich liebe, Rätselleben“. Eine Biografie. Reclam Verlag 2017