Die (Gem)Einsamkeit des Menschen

Der Mensch ist immer vor einsame Entscheidungen gestellt, im Wesentlichen immer auf seine Einsamkeit zurückgeworfen. Andererseits ist der Mensch als soziales Wesen immer auf Gemeinschaft verwiesen. Und nie verwirklicht sich Menschsein so sehr wie in der Liebe. 

 

Wie man (Newton) zuerst Licht als Korpuskel gesehen hat und 100 Jahre später (Young) als Welle, so waren das doch Antworten, die die Frage nicht ausschöpften, sondern verengten. Licht (und alle Elementarteilchen) sind „zugleich“ Teilchen UND Welle (Einstein), also nicht entweder-oder, sondern sowohl-als auch, aber genauer weder-noch, sondern etwas ganz anderes, eben Quantenphänomene.

 

So haben wir gelernt – oder hätten wir lernen können – dass die aristotelische Logik nicht einmal ausreicht, um die Materie zu beschreiben. Wie sollte sie ausreichen, Lebendiges zu erklären? Wie sollte sie ausreichen, den Menschen zu erklären? So auch in der Frage von Einsamkeit oder Gemeinsamkeit. Der Mensch ist ein soziales Wesen, er kann allein oder einsam gar nicht existieren. Das musste schon Friedrich II. erkennen, der eine Gruppe von Säuglingen aufwachsen ließ, indem er ihnen alles Überlebensnotwendige – Nahrung, Kleidung usw. – angedeihen ließ, die sie Pflegenden aber durften nicht mit ihnen sprechen. Er nahm nämlich an, dass sie dann eine Ursprache erlernen würden. Keiner der Säuglinge hat je gesprochen, sie sind alle gestorben! Friedrichs Kommentar: „Sie vermochten nicht zu leben ohne das Händepatschen und das fröhliche Gesichterschneiden und die Koseworte ihrer Ammen.“ Er hatte ihnen Berührungen und soziale Kontakt vorenthalten, und ohne die ist kein Mensch lebensfähig.

 

Und doch, in wichtigen Entscheidungen und „im Grunde, und gerade in den tiefsten und wichtigsten Dingen, sind wir namenlos allein…[1] Dies kann wohl jede/r aus eigener Erfahrung bestätigen. Niemand kann uns wesentliche Entscheidungen abnehmen, da sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Für Rilke ist die Einsamkeit sogar Voraussetzung für die Kunst und für das Leben schlechthin: „Aber Ihre Einsamkeit wird Ihnen inmitten sehr fremder Verhältnisse Halt und Heimat sein, und aus ihr heraus werden Sie alle Ihre Wege finden.“[2] So ist die Einsamkeit Voraussetzung für das zu sich Kommen, für einen authentischen Weg im Leben. Dies ist der Grund, warum spirituell Suchende in aller Welt sich zurückzogen in die Einsamkeit – in die Wüste, ins Kloster, in eine Höhle im Himalaya.

 

Und doch wird sogar hier noch deutlich, wie sehr der Mensch auf Soziales angewiesen ist. Die Wüstenväter und -mütter in der Ägyptischen Wüste hatten sehr wohl untereinander Kontakt, Klöster sind Gemeinschaften, und selbst der Asket in der Höhle im Himalaya war noch darauf angewiesen, dass ihn jemand mit Nahrung versorgt – und das Experiment war auch zeitlich begrenzt. Ist der Mensch ein einsames oder soziales Wesen? Die Frage ist nicht mit entweder – oder zu beantworten. Das eine schließt das andere nicht aus. Mehr noch, das eine braucht das andere, das eine ist nicht ohne das andere.

 

Wir müssen unterscheiden: Es gibt punktuelle Entscheidungen, wo ich an Weggabelungen nur entweder den einen oder den anderen Weg gehen kann. Wobei die Frage, ob nicht beide Wege zum Ziel führen können, auch noch offen ist. Doch bei Grundhaltungen – wie eben auch bei Einsamkeit oder sozialem Leben – ist ein Entweder-Oder gar nicht möglich. In der Einsamkeit sich selbst begegnen zu können, ist eine Fähigkeit, ohne die das Leben kaum gelingen kann. Das wird aktuell ganz deutlich, wenn in Corona-Zeiten Ausgangsbeschränkungen verhängt werden und soziale Kontakte möglichst zu meiden sind. Das trifft diejenigen besonders hart, die nie gelernt haben, mit sich allein zu sein. Es ist zweifellos schwer, aber diese Schwere ist für Rilke ein Grund mehr, es zu tun.

 

Und doch: „Auch zu lieben ist gut; denn Liebe ist schwer. Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.“[3] Und noch ein Und doch: Liebe ist nicht nur sich Verbinden, Liebe ist ein Spiel von Nähe und Distanz, von Gemeinsamkeit und auf sich zurückgeworfen sein. Denn lieben ist immer auch eine Aufgabe: „…ein erhabener Anlass für den einzelnen, zu reifen, in sich etwas zu werden, Welt zu werden, Welt zu werden für sich um eines anderen willen…“[4] Gerade in der Beziehung zum Geliebten ist die Gemeinsamkeit von der Einsamkeit gar nicht zu trennen. Die Aufgabe ist, „am Du zum Ich zu werden“ (Martin Buber), oder in gemeinsamer Entwicklung am Wir zum Ich und Du zu werden. Da wird das Wir zum Feld, in dem Ich und Du aufgehen und zu sich kommen.

 

Der Mensch ist ein soziales Wesen, ohne soziale Kontakte, ohne Berührungen ist er gar nicht lebensfähig – und doch ist er im Wesentlichen immer allein auf sich selbst gestellt und zurückgeworfen. Je mehr er Ich wird, desto mehr ist er auch fähig zum Wir. Innen und außen sind nicht getrennt. Wir sind gleichzeitig Teil und Ganzes, Individualität und Umfassendes – oder in der Sprache (der Monadologie) des Philosophen Leibniz: Wir sind das Ganze in individueller Perspektive. Je klarer die Perspektive, desto deutlicher das Ganze. In der Einsamkeit kann sich der alchemistische Prozess vollziehen, in dem das Ich sich des Ganzen bewusst werden kann. Und der/die andere ist der Spiegel, der Ergänzung ist (was kann ich in mir noch nicht sehen?) und das Ganze sichtbar machen kann. Dieser andere ist das Ureigenste und das Fremde zugleich, in dem das Gemeinsame und das Einsame wachsen können.

 



[1] Rainer Maria Rilke: „Briefe an einen jungen Dichter“, Insel Verlag. 2. Aufl. 2020, S. 29

[2] Ebda S. 45

[3] Ebda S. 57

[4] Ebda S. 58