Über die Schwierigkeit zu lieben…

Anna Stangl, Zwischendrin, 1997. Voriges Bild: Anna Stangl, Spirale, 2005
Anna Stangl, Zwischendrin, 1997. Voriges Bild: Anna Stangl, Spirale, 2005

 

Jeder hat so seine Vorstellungen von Liebe, die meist gar nicht zu erreichen sind. Denn sie kommen zunächst aus dem Über-Ich (Freud) und dem unbewussten Inneren (Jung), sie orientieren sich an einem Komplex (der Anima, des Animus), in dem Erlebtes und Erlittenes (Eltern, Umgebung, Kirche,…) sich mit Unbewusstem (und Kollektivem) mischt.

 

Die Aufgabe in der Sprache Sigmund Freuds: Wo Über-Ich war, soll Ich werden!

Die Aufgabe in der Sprache C.G. Jungs: Integration von Schatten und Anima/us auf dem Weg der Individuation, der Ganzwerdung der Persönlichkeit – und das im Dialog zwischen Innen und Außen, zwischen Anima/us und Partner/in.

Aber: Auf diesem Weg sind eine Menge an Hindernissen zu überwinden, die nicht nur in uns, sondern auch außerhalb von uns liegen.

 

Die Verbrechen von Kirche und Gesellschaft

Zu den – trotz allem noch mächtigen – Über-Ich-Gewalten gehört die (katholische) Kirche. Sich kritisch mit ihr zu befassen ist immer noch ein Tabu, sogar für die heftigsten Kirchenkritiker und Atheisten. Da wird – zurecht – gefordert, dass sie sich für Inquisition und Hexenverfolgung sowie für den sexuellen und spirituellen Missbrauch entschuldigt. Doch die ersten beiden waren dem damaligen „Zeitgeist“ zuzuschreiben und gar nicht nur der Kirche. Aber selbst Millionen Tote sind buchstäblich nichts gegen das Leid, das über die Jahrhunderte an Generationen durch die Sexualmoral der Kirche angerichtet wurde.

 

Einer der wenigen, die das aussprechen, ist der Theologe, Psychotherapeut und ehemalige Priester Eugen Drewermann: „Es gibt vielleicht kein Verbrechen im 20. Jahrhundert, das in Fragen der Moral so tief geht wie das einer Kirche, die sich die ‚katholische‘ nennt und als solche nicht darauf verzichtete, ja, es geradezu für ihr Hauptanliegen erklärte, achtjährigen, neunjährigen Kindern beizubringen, dass sie in die Hölle kommen würden ‚durch Gedanken, Worte und Werke‘. Die Folge einer solchen klerikalen Moral ist, dass das Denken, das Wollen, das Fühlen immer wieder kreisen wird um eben das Verbotene und davon nicht loskommt.“[1] Wie die Pawlow‘schen Hunde werden wir darauf konditioniert, das, was gewollt wird, und das, was verboten ist, zu einem bedingten Reflex zu vereinen. Damit verbinden sich Sehnsucht und Schuldgefühle, Trieb und Unterdrückung, und das führt zu den Sexualneurosen, die in so vielen Psychotherapien behandelt werden mussten und müssen.

 

Mit anderen Worten: Die Kirche produziert selbst genau das, was sie dann verbietet. Und die Menschen müssen notgedrungen das tun, was sie dann als „Sünde“ und Schande empfinden sollen und müssen. Wenn in der Philosophie „Sinnlichkeit“ der Begriff für das Vermögen der Sinne ist, dann wird der Begriff in kirchlicher Terminologie zum Inbegriff der sexuellen Lust, die nicht sein darf. So wird die Sensibilität durch den klerikalen Tunnelblick zum Verbotenen. Die Situation noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts klingt heute wie eine Karikatur, war aber brutale Realität: Der Ehemann hat seine Frau mit dem Madonnenblick anzuschauen, sie hat keine Chance, Frau zu sein, er muss sie entsexualisieren. Und genau das treibt ihn ins Bordell oder zu anderen Frauen: Er muss das, was in der Normalität verboten ist, im Verbotenen normal machen. Die Moral produziert das, was sie verbietet! Und der Gipfel der Perversität: Die züchtige Ehefrau muss das, was verboten ist, als „eheliche Pflicht“ über sich ergehen lassen! „Was Wunder schließlich, dass eine solche Frau Ekel empfindet vor einem Mann, der immer noch ihr selbst dort ‚Pflichten‘ abverlangt, wo Verlangen und Freude nicht sein darf.“[2]

 

Früher war das die Normalität, heute ist bereits vieles anders, doch die Nachwehen dieser Haltung sind immer noch präsent. Aber die Kirche steht damit gar nicht allein, weit gefehlt! Die Gesellschaft ist um keinen Deut anders. Selber noch im Stadium der kollektiven Pubertät, fördert sie Konkurrenz und Eifersucht auf allen Ebenen. Und mit der Eifersucht bestraft sie dann genau das, was sie selber hervorbringt. Oder der Jähzorn, der auf persönlicher Ebene geächtet und bestraft wird, wird im Dienst der Gesellschaft, im Krieg gefördert. Da werden brutale, jähzornige Kämpfer mit Orden ausgezeichnet. Es ist dieselbe Gesellschaft, die ihre Laster schafft, die sie dann zu bekämpfen vorgibt. „Die Widersprüchlichkeit des Gesellschaftlichen und Kirchlichen führt förmlich dahin, Menschen darauf zu dressieren, dass sie immer wieder ablehnen, was in ihnen vor sich geht, nur um sich auf das Verbotene dann zu fixieren.“ [3]

 

Und heute?

Vieles ist heute bereits anders. Ob es so viel besser ist, sei dahingestellt. In den 1950er Jahren überrannten die Menschen die Kinos, um wie die Kinder einen kurzen Augenblick der nackten Hildegard Knef zu erhaschen. Heute haben schon die Kinder Zugang zur Pornografie. (Die damaligen Jugendlichen hätten viel dafür gegeben!). Aber der Zugang zur Liebe ist möglicherweise genauso verbaut wie damals. War es damals die Hemmung dessen, was nicht sein darf, so ist es heute die entseelte Technisierung, die den Zugang zur Intimität verstellt. Es ist normal, die Jungen wollen oder brauchen es, die Mädchen wollen attraktiv sein und es ihnen bieten – das ist weit offener, aber nur ein kleiner Fortschritt weg von den damaligen „ehelichen Pflichten“. Das ist nur eine polemische Beschreibung, aber insgesamt produziert die Befreiung meist auch neue Zwänge. 

 

Die Angst um die von Pornografie und Sexting überschwemmten Jugendlichen ist dennoch unnötig. Wenn sie sich verlieben, werden sie einen Zugang zu ihrem Inneren, zu sich selbst finden und nicht auf Restriktionen und Manipulationen von außen angewiesen sein. Die Angst um die widerspenstige Jungend war schon in der Antike bekannt, die Evolution ließ sich dadurch nicht aufhalten.

 

Was bleibt ist, dass man lieben lernen muss, dass man Erfahrung und Experimentieren nicht mit Restriktionen und Moralisieren unterbinden darf. Darunter haben Jahrhunderte und Generationen schwerst gelitten. Aber jede Zeit hat ihre eigenen Probleme. War früher alles Körperliche verboten, ist heute alles Seelische aus der Körperlichkeit verdrängt. Zu hoffen ist, dass der klerikale und kriminelle Eingriff in das Seelenleben nicht mehr ernst genommen wird, und dass nach der Befreiung des Körpers es auch zu einer Befreiung der Seele kommen kann. Die Zeit der kollektiven Pubertät sollte langsam vorbei sein und ein erwachsenes Leben ermöglichen. Das wäre dann das Ende der Über-Ich-Moral, die von Eltern, Kirche und Gesellschaft eingeimpft wird, so dass ein Leben von innen her Platz greifen kann. Denn etwas zu tun oder zu lassen, nur weil es so vorgeschrieben wird, weil MAN es macht oder unterlässt, ist auch dann noch unmoralisch, wenn es das Richtige ist. Ethisch ist nur das, was aus Überzeugung von innen kommt.

 

Dazu gehört allerdings etwas, das noch heute ein Tabu ist: die Beschäftigung mit der Psychologie, dem eigenen Inneren, dem Unbewussten, dem Komplex des Schattens, der Anima, des Animus. Jede Beziehung ist die Projektion des Inneren nach außen, der Anima auf die Partnerin, des Animus auf den Partner – und die korrigierende Spiegelung des Außen nach innen. An dieser Projektion können beide gemeinsam wachsen. Das Innere wird bewusst, weil es im Außen sichtbar und geliebt wird. Und das Außen wirkt auf das Innere zurück und kann vergangene Traumata heilen. In dieser Intimität haben äußere Eingriffe (von Eltern, Kirche, Gesellschaft, Rollenbilder, Schönheits- und sonstige Ideale,...) nichts verloren. Aber in dieser gemeinsamen Entwicklung wird die (innere und äußere) Welt neu geschaffen.



[1] Eugen Drewermann: „Ein Mensch braucht mehr als nur Moral. Über Tugenden und Laster“, WalterVerlag, 2. Aufl. 20l02, S. 114 f.

[2] Ebda, S 118

[3] Ebda, S 113