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Begegnung zwischen Ost und West / 8

Advaita und Liebesmystik

Wer sich mit asiatischen Kulturen beschäftigt, muss sich mit dem prinzipiellen Weltbild dahinter befassen, das komplementär ist zum westlichen. Jede wörtliche Übersetzung, die nicht diesen Hintergrund berücksichtigt, geht daher am Thema vorbei.

 

Das asiatische Weltbild ist 1. ein ganzheitliches, und 2. steht immer ein Aspekt im Vordergrund. Dem Westler fällt dieser Teilaspekt ins Auge und er ignoriert die Perspektive des Ganzen. So kann man z-B. die historische Entwicklung des Yoga im Westen nachzeichnen. Zuerst kamen Bücher über Sri Ramakrishna und Swami Vivekananda (Romain Rolland) und die Autobiographie Paramahamsa Yoganandas. Wir erfuhren über Sri Ramana Maharishi oder Ananda Moyi Ma. Da war noch der ganze Yoga drin und wurde mehr oder weniger verstanden.

 

Daneben tauchten immer mehr Bücher über Hatha Yoga auf, der im Westen eine drastische Entwicklung durchmachte. Hatha Yoga ist Kundalini Yoga und hat mit den inneren Energien zu tun. Im Westen degenerierte er zur Gymnastik, die bis zur Zirkusreife ausgebaut wurde. Was wir da heute vorfinden, hat meist mit Yoga nichts mehr zu tun.

 

Die esoterisch angehauchten Westler stürzten sich auf das andere (das geistige) Ende. Advaita (Nicht-Zweiheit) ist das Zauberwort. Oder auf den Buddhismus, der zwar den Mittleren Weg propagiert, aber die westlichen Mäuse gingen lieber in die Falle des Nirvana.

 

Es gibt so viele Wege, wie es Menschen gibt

Wenige beschäftigten sich mit grundlegend mit dem Yoga, weder historisch, noch exemplarisch. Menschen sind verschieden, daher sind auch die Yoga-Wege verschieden. Grob muss man unterscheiden zwischen Jnana-, Bhakti-, Karma- und Raja-Yoga – entsprechend der Grundausrichtung der menschlichen Persönlichkeit: intellektuell, emotional, pragmatisch oder eher systematisch-ganzheitlich.

 

Allerdings – entsprechend dem fragmentierenden Denken der Westler – sehen wir meist nur die Ausrichtung und nicht den ganzheitlichen Hintergrund, der allen gemeinsam ist. Der Hatha-Yoga eignet sich am besten zum Verbiegen, Bhakti- und Karma-Yoga werden kaum beachtet, weil sie zu sehr dem (tätigen) Christentum entsprechen, und Jnana-Yoga in Form der Advaita-Philosophie wird als das Höchste gefeiert, weil es dem rationalen Westen entgegenkommt. Dass dahinter genauso ein Übungsweg steht, wird geflissentlich übersehen oder verdrängt, und die oberflächliche Esoterik glänzt heute mit (unverstandenen) Kalendersprüchen wie „Alles ist Eins“, „Alles ist schon da“, „Die Welt ist Maya = Illusion“ und ähnlichen Versatzstücken, die für sich genommen gar nichts besagen.

 

Maya – die schöpferische Kraft

Nehmen wir ein Beispiel (Kriya Yoga, Einführung in den geistigen Weg Sri Yukteswars und Yoganandas): „Es gibt eine berühmte Redensart, die besagt, dass das gesamte Lehrgebäude des Advaita-Vedanta in einem halben Vers zusammengefasst werden könnte: „Brahma satyam jagat mithya, jiva Brahma paraparam.“ Dies bedeutet, dass Brahman die einzige Wirklichkeit ist.“ Bis hierher ist alles klar. Aber dann kommt – wie bei der Mathematik der Quantentheorie, die eindeutig, aber nichtssagend ist, weil sie erst interpretiert werden muss – die Frage, wie ist das zu verstehen und was machen wir daraus? Yoga ist ja keine Philosophie, sondern eine Praktik.

 

„Die Welt ist letztendlich trügerischer Schein, die individuelle Seele ist von Brahman nicht verschieden. Brahman und Atman sind identisch und die Welt ist eine Schöpfung der Maya.“ Das ist ein schönes Beispiel, wie schwierig es ist, Begriffe in eine andere Sprache zu übersetzen, wenn nicht das Weltbild sozusagen „mitübersetzt“ wird. Die Welt ist Maya. Gemeint ist aber nicht „trügerischer Schein“ oder „Illusion“; das mag eine akzeptable Übersetzung des Begriffs sein, aber es gibt keinen isolierten Begriff ohne Kontext, in dem Fall dem Kontext des Ganzen.

 

„Maya“ hat nicht diese negative Konnotation, die wir dem Begriff im Westen geben. Wir könnten genauso gut mit „Natur“ übersetzen. Die Bedeutung ist, dass wir die „Dinge“ nicht so sehen, wie sie sind. Um sehen zu lernen, müssten wir hinter die Oberfläche sehen lernen. Maya ist eine Göttin, ist Shakti oder Kali – die schöpferische Kraft schlechthin. Shiva, der in sich Ruhende, ist „hinter“ der Schöpfung, diese ist Sache des dynamischen weiblichen Pols, der Shakti. Maya ist damit nicht Illusion, sondern Endlichkeit, Begrenztheit, Vergänglichkeit. Das weibliche Prinzip ist wieder dual, d.h. die Göttin Kali schafft und zerstört – nichts hat Bestand. Das ist mit Maya gemeint.

 

Yoga ist nicht Philosophie, sondern Weg

Im Yoga geht es nicht um das „Wissen“, was Brahman und was Maya ist. Es geht um den (ganz pragmatischen) Weg zum Ursprung zurück. Über Advaita oder Nirvana zu philosophieren, ist nicht Yoga. Yoga beginnt da, wo ich stehe, und hat nur eine Intention: die Weiterentwicklung. Die Kalendersprüche sind Theorie, sind Abstraktion, die für diesen Weg nichts bringen. „Es gibt nur Brahman“, „Alles ist Illusion“, „Alles ist schon da“, „im Hier und Jetzt“ – all das hat seinen Sinn im Kontext eines asiatischen Weltbildes, das nie das Ganze vergisst (ohne darauf hinweisen zu müssen) und immer den Weg vor Augen hat. Im westlichen Kontext führt das nicht aus der „Illusion“ heraus, sondern in die Illusion hinein. Mit dem abstrakten „Hier und Jetzt“ wird das konkrete Hier und Jetzt verdrängt. Damit gibt es keine Dynamik und keinen Weg mehr. Es ist das Gegenteil erreicht, nämlich Stillstand!

 

Im Bhakti-Yoga eines Sri Ramakrishna ist die Kali (die Verkörperung der Maya) eine Göttin und das „Objekt“ der Liebe. Daran ist zu ersehen, wie sinnlos eine Übersetzung von Maya mit „Illusion“ ist. Wir brauchen gerade diese „Illusion“, das heißt die Schöpfung und alle Geschöpfe, um Liebe zu allem und jedem zu entwickeln. Wer wie gebannt auf die Nicht-Zweiheit blickt, schneidet sich von der Kraft der Schöpfung, von der Kraft der Liebe ab!

Aber darin taucht wieder die Ganzheit auf: Im Bhakti-Yoga heißt Lieben: das zu werden, was man liebt. Du meditierst auf Shiva, um göttlich zu werden, du meditierst auf die Göttin, um ganz (=heil) zu werden. Sri Ramakrishna meditierte auf Christus, und binnen kurzem kam ihm im Park Christus entgegen und verschmolz mit ihm. Man sagt, hätte er noch zwei Wochen meditiert, wäre er zum Christen geworden.

 

Maya als der Weg

Im Bhakti-Yoga meditiert man auf Blumen, Kerzenlicht, auf den Sat-Guru (den Guru hinter dem Guru), nicht weil man diesen verehrt (oder anhimmelt, wie es die Westler tun), sondern weil man das Göttliche in ihm sehen lernt. Die Natur ist nicht Illusion, sondern lebendig. Das bedeutet zwar dasselbe wie „Alles ist Brahman“, aber nicht abstrakt, als Theorie, sondern als Weg.

 

 

Heute ist das Bild des Gurus im Wandel. Der Lehrer nennt sich nicht mehr Guru, und er nennt niemand Chela (Schüler), man übt nicht am bestimmten Ort zu bestimmter Tageszeit, sondern Übung ist das Leben. Man braucht nicht das Bild eines Heiligen, es „genügt“ die Begegnung mit Menschen in der Straßenbahn, einem Bettler auf der Straße, mit Tieren, mit Bäumen (auch die haben eine Persönlichkeit) oder Blumen. (Alles Maya, sagt der trockene Rationalist…). Es geht nicht darum, die Welt (rein rational) als „Illusion“ zu durchschauen, sondern darum, die Welt lebendig zu sehen. Nicht „Objekte“ zu sehen, sondern Lebendiges, Liebenswertes. Letztlich geht es darum, Liebe zu entwickeln und diese Liebe auf alles auszudehnen. Und ob du dann dieses „Alles“ als Brahman, Nicht-Zweiheit, Nirvana oder Gott bezeichnest, ist letztlich völlig unbedeutend.