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Im Hier und Jetzt

Wie können wir diese allseitig missbrauchte Phrase verstehen?

 

Erstens kommt dieses „Hier und Jetzt“ aus Asien, aus dem Bereich des Yoga, Buddhismus und Daoismus. Das heißt schon mal, dass unsere Denkkategorien von Raum und Zeit nicht gemeint sind. „Hier“ ist kein Ort und „Jetzt“ ist keine Zeit. Es ist gar keine Aussage über einen Ort oder einen Zeitpunkt, über ein „etwas“ oder über einen Zustand.

 

„Hier und Jetzt“ meint keinen Ort und keine Zeit, sondern einfach Wahrnehmen.

 

Grundlegend sind nicht Raum und Zeit, sondern Yang und Yin, die zwei Seiten, die in gegenseitiger Abhängigkeit das Ganze bilden. So sind auch die Fünf Elemente im Daoismus (Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser) keine Dinge oder Elemente im westlichen Sinne, sondern die Dynamik des Lebendigen. Sie Bauen nicht eine Welt auf, sondern sie bringen einander hervor in einem ewigen Kreislauf. (Nebenbei kann man darin sehen, dass jede Einteilung willkürlich ist. Die westliche ist nicht „richtiger“ als die östliche, sie sind nur jeweils anders).

Daher haben Raum und Zeit mit dem (östlichen) Hier und Jetzt gar nichts zu tun. Es hat damit zu tun, was ist, wenn sich jemand hinsetzt, die Augen schließt und Dinge oder Objekte, innen und außen keine Bedeutung mehr haben.

 

Was bleibt, ist Wahrnehmen.

 

Wohl gemerkt kein Substantiv, sondern ein substantivisch gebrauchtes Verb. Der Osten kennt kein statisches Denken, alles ist Dynamik. Es wäre absurd, etwas „festzustellen“. Es wäre absurd, etwas zu „definieren“, und damit zu begrenzen. Jedes Etwas geht über in ein anderes, genauer (denn etwas Statisches gibt es nicht), alles bedingt ein anderes, alles fließt (Heraklit).

Es geht also um das Hier und Jetzt ohne Raum und Zeit. Das Hier ist kein Ort, und das Jetzt ist kein Zeitpunkt. Ein Ort wäre Abgrenzung von anderen Orten, Gegenwart wäre Abgrenzung von Vergangenheit und Zukunft. Darum geht es nicht. Für das, worum es geht – Wahrnehmen – gibt es keine Grenzen. Das „Hier“ ist so etwas wie die Nicht-Lokalität der Quantenphysik. (Ein „Teilchen“ ist vor der Messung an allen möglichen Orten gleichzeitig, somit überall und nirgends). Und das „Jetzt“ ist zeitlos, enthält gleichzeitig (ohne Unterscheidung) alle Zeit der Welt.

 

„Hier“ heißt nicht „an diesem Ort“, sondern Wahrnehmen.

„Jetzt“ heißt nicht „in diesem Augenblick“, sondern Wahrnehmen.

„Hier und jetzt“ heißt Wahrnehmen und sonst nichts.

 

Gemäß unseren Denkkategorien kann man das nur negativ formulieren. „Hier“ heißt dann, dass es kein Innen und Außen gibt. „Jetzt“ heißt, dass es keine Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt. Nicht an Vergangenes und Zukünftiges denken trifft es nicht. Eher dass die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwinden, so wie auch Innen und Außen verschwinden.

 

Es gibt nur Wahrnehmen.

 

Im Hier und Jetzt, in diesem Wahrnehmen zu sein, bedeutet konkret, einen vorbeifliegenden Vogel nicht im Außen zu erleben, sondern in der Wahrnehmung, in der außen und innen unterschiedslos enthalten ist.

 

Dies kann man in verschiedenen (auch westlichen) Sprachen ausdrücken.

 

In der Sprache der Mystik: Alles ist Eins. Alles ist göttlich. Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.

 

In der Sprache der Psychologie: Alles ist Symbol. Jede Landschaft ist Seelenlandschaft. Alles ist lebendig, alles ist archetypisch. Alles kann interpretiert werden.

 

In der Sprache der Philosophie: Es gibt kein Subjekt und kein Objekt, es gibt nur Wahrnehmung. Subjekt und Objekt, Dinge und Objekte gibt es nur zum Zweck der Kommunikation. Das müssen wir unterscheiden, um uns verständigen zu können, wir dürfen das aber nicht trennen, weil nichts in der Welt getrennt von allem anderen existiert. „Hier und Jetzt ist Wahrnehmen des Ganzen. Oder nicht einmal „des Ganzen“, sondern als Ganzes.

 

In der Sprache der Physik: Selbst die Physik tastet sich da langsam heran. In der Mikrophysik beginnt sich die Grenze zwischen Subjekt und Objekt langsam aufzulösen. Es gibt keine Teilchen, sondern nur noch Felder. Nichts kann mehr isoliert betrachtet werden. Die Wirklichkeit ist Potentialität oder Nicht-Lokalität.

 

Das klarste Bild im Westen für diese Grenzenlosigkeit des (zeit- und raumlosen) Hier und Jetzt ist die Monadologie von Leibniz.

Die Monade ist das psychische Atom. Es ist unteilbar und hat „keine Fenster“ – nicht weil es nach außen begrenzt wäre, sondern weil es kein Außen gibt. Die Monade – jede Monade – ist das Ganze, aber in individueller Perspektive.  

Ich bin eine Perspektive des Ganzen. Ich kann Ich und Ganzes gar nicht trennen – ich bin das. Indisch: tat twam asi – das bist du. Kein „objektives“ Denken, sondern Wahrnehmen…