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Begegnung zwischen Ost und West / 6

Die Komplementarität von Innen und Außen

Das ganze Universum ist dual aufgebaut, ohne Dualität gäbe es nichts. Diese Dualität muss aber als Komplementarität gesehen werden: als Gegensätze, der erst zusammen das Ganze ergeben. Neben der Dualität/Komplementarität von männlich/weiblich ist die wichtigste für den Menschen die von innen und außen.

 

Philosophen fragen seit nahezu 3000 Jahren nach der Welt, aber diese Frage ist gleichzeitig die Frage nach dem Menschen – endgültig bei Immanuel Kant. Selbst die Naturwissenschaft – die Wissenschaft vom materiellen Sein – ist nicht die Beschreibung der Natur, sondern unseres Sehens der Natur (Werner Heisenberg). Wir leben ein Wahrnehmungsfeld, in dem innen und außen, Subjekt und Objekt, zwar als Gegensätze zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind.

Und doch ist das Wahrnehmen bis heute das Wahrnehmen von etwas, von etwas Äußerem geblieben. So ist auch die Frage nach dem Menschen immer noch die aus der Außensicht. Erst Freud und Jung wandten sich dem Subjekt als reale Innenwelt zu. Freud legte die äußeren Schichten der Innenwelt frei, Jung sondierte wesentlich tiefer. Seine Innenwelt reichte über das persönliche Unbewusste hinaus (oder hinein) in ein kollektives Unbewusstes, das über die Psyche hinausgeht in die Menschheitsgeschichte und in das Überpersönliche. Nebeneffekt ist, dass innen und außen oft nicht zu unterscheiden sind – z.B. in der Synchronizität, einem nicht kausalen Zusammentreffen von innen und außen, von sinnvollen Zusammenhängen von inneren Bildern und äußeren Ereignissen.

 

Die Relativität von innen und außen

Soweit ist das noch Allgemeingut von Menschen, die sich mit Psychologie, und vor allem der Analytischen Psychologie C.G. Jungs beschäftigen. Es gibt aber einen Punkt, der immer noch schwierig nachzuvollziehen ist, und der betrifft die Dualität oder Komplementarität von innen und außen. Was in Mythologie und Religion eine transzendente Welt (mit Göttern, Engeln, Dämonen, Teufeln), das ist psychologisch alles in der Innenwelt. Nicht nur weil jede Erfahrung eine psychische ist, sondern weil Religion ein Weg nach innen ist. So sind Götter (für Jung Archetypen) psychische Inhalte oder Kräfte. Allerdings relativiert sich auch das: Referenzpunkt des Denkens ist das Ich, und von dessen Standpunkt aus ist auch die Innenwelt außerhalb (des bewussten Ich).

 

Die Archetypen haben eine vom bewussten Ich unabhängige Existenz, egal ob wir sie als unbewusste psychische Phänomene oder als objektive Wesenheiten interpretieren. „Die Annahme unsichtbarer Götter oder Dämonen wäre eine psychologisch viel passendere Formulierung des Unbewussten, obschon dies eine anthropomorphistische Interpretation wäre.“ [1] Beides ist Interpretation. Deshalb kann man die Götterwelt psychologisch erklären. Nur das „moderne“ Weltbild, für das eine Innenwelt der Psyche subjektiv und damit bloße Fantasie ist, kann damit wenig anfangen. Gott oder Götter in einer transzendenten (äußeren) Welt werden einfach als Fantasie abgetan. Was ja auch richtig ist: In einer Außenwelt ist da nichts zu finden. Für Jung geht es dabei aber um eine objektive Innenwelt, und ob die als bloß psychisch (unbewusst) oder unsichtbar wirklich bezeichnet wird, ist für ihn Geschmackssache.

 

Von der Theorie zur Erfahrung

Man kann daher die Archetypen, z.B. Anima und Animus als psychische Kräfte bezeichnen, oder ihnen (wenn sie schon etwas höher entwickelt sind) als innere Gottheiten real, das heißt als Erfahrung begegnen. Die Frage, was ist hier innen und was außen, ist kaum mehr relevant. Diese Erfahrung ist innerpsychisch, geht aber gleichzeitig weit über alles Psychische hinaus. Jung konnte sich seiner Innenwelt durch die Methode der aktiven Imagination nähern. Dabei geht man von einem Vorstellungsbild aus, beobachtet neutral dessen Veränderung und steigt zuletzt in diese (inner-objektive) Bilderwelt hinein.

 

Man kann Yoga und Tantra als „Fortsetzung“ (wenn auch historisch viel früher) der Psychologie C.G. Jungs betrachten – als konkretes Arbeiten mit bestimmten Archetypen. Es ist bekannt, dass Yogis oder tibetische Lamas so lange auf ihre Gottheiten üben, bis sie ihnen „real“ begegnen. In der Sprache der Psychologie agieren diese zunächst archetypischen Vorstellungen nicht nur wie eigenständige Persönlichkeiten, sondern werden auch als solche erfahrbar. Damit kann die Frage, was ist innen, was ist außen, gar nicht beantwortet werden. Die innere Göttin kommt aus einem Jenseits der Psyche, trägt aber Züge, die der Psyche des Übenden, seiner Anima entsprechen.

 

Hier vermischen sich die Sprachen von Psychologie und Religion in einer Art Zwischenwelt. Für den Yogi ist auch nur wichtig, dass es sich um eine konkrete Erfahrung handelt. Dies ist auch der Unterschied zu einem abstrakten Gottesbild, das keinen Bezug zur Erfahrungswelt hat. Die innere Göttin übersteigt zwar die Vorstellungswelt des Yogis, und doch kann er ihr auf Augenhöhe begegnen. Sie will auch nicht angebetet und verehrt, sondern geliebt werden. Yoga und Tantra sind somit das missing link zwischen Welt und Religion, zwischen menschlich und göttlich, zwischen innen und außen.

 

 



[1] C.G. Jung: Psychologie und Religion. Rascher Verlag, 4. Aufl. 1962, S. 100 f.