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Begegnung zwischen Ost und West / 5

Männlich/Weiblich in Ost und West

Ost und West verhalten sich in allem komplementär ergänzend, da ist die Symbolik von männlich und weiblich keine Ausnahme. Wir sehen das Biologische im Vordergrund, der Osten das Spirituell-Kosmische – und in gewisser Hinsicht ist das eine der Gegensatz zum anderen.

 

Symbole sind immer etwas Ganzheitliches (daher niemals eindeutig), sie sind dadurch auf allen Ebenen stimmig, und man kann sie von verschiedenen Perspektiven her anschauen. Für unser Thema ist schon mal bedeutend, dass im Osten das Kosmische im Vordergrund steht, nämlich die Dualität, die den gesamten Kosmos durchzieht. Im Westen geht es mehr um das Individuelle, wodurch die allgemeine Dualität alles Bestehenden im Dunklen, im Unbewussten bleibt.

 

Daher ist die östliche Symbolsprache universeller und neutraler: Yin und Yang betrifft alles, bedeutet hell-dunkel, oben-unten, rechts-links, bewusst-unbewusst, natürlich auch männlich-weiblich, daher dienen in der Darstellung Mann und Frau auch als Symbol für jegliche Dualität.

 

Der Westen hat die Symbolsprache völlig verloren (auch wenn sie in der Sprache immer noch drinsteckt), sieht nur mehr das Offensichtliche und ist schon damit überfordert, dass es nicht nur das biologische, sondern auch ein soziales Geschlecht gibt, und das jeweils etwas anderes bedeutet.

 

Komplementarität von aktiv und passiv

Im Vergleich zwischen Ost und West fällt auf, dass auch männlich-weiblich jeweils etwas anderes bedeutet. Wer ein bisschen von Psychologie und Symbolik versteht, der weiß, männlich bedeutet aktiv, zupackend, eindringend usw., weiblich bedeutet passiv, empfangend, offen. (Dass das symbolisch ist und nicht vordergründig Mann und Frau meint, bereitet vielen enorme Probleme). Wir haben unser biologisches Bild vor Augen und projizieren das sogar bis ins Religiöse. Gott Vater ist „männlich“, das Weibliche hat im Himmel (im Geistig-Männlichen) nichts verloren. C.G. Jung jubelte, als das Dogma der (leiblichen) Aufnahme Mariens in den Himmel verkündet wurde. Was sogar er übersehen hat ist, dass gerade Maria bedeutet, „Mutter zu werden, ohne Frau sein zu müssen“. (Eugen Drewermann)!

 

Solche Vorstellungen aus der Kindheit der Menschen klären sich auf, wenn man in den Osten blickt, wo es in vieler Hinsicht komplementär zugeht. Im Osten – wo man nicht von unten, sondern von oben her denkt – ist das Männliche das in sich Ruhende, „Inaktive“, während das Weibliche das Aktive, Dynamische der Schöpfung darstellt. Die ganze Schöpfung ist somit weiblich, aber in sich wiederum von der Dualität von männlich und weiblich geprägt. Außerdem fällt die Dualität nicht als Gegensatz auseinander wie im Westen, sondern gehört immer komplementär zusammen. Daher werden Gottheiten in (sexueller) Vereinigung (tibetisch: Yab-Yum) dargestellt. Die Psychologie östlicher Religionen ist viel differenzierter als die der westlichen. Gottheiten haben ihre hellen und dunklen (Schatten-)Aspekte, haben nie eine eindeutige Zuordnung. Der Totengott Yama (im tibetischen Buddhismus) oder die indische Göttin Kali haben einen zerstörenden und einen heilenden Aspekt. Asiaten können im Zerstörerischen das Zerstören des Ego oder der Maya (der Illusion) sehen.

 

In jedem Fall sehen wir, dass im Westen (von unten, vom Materiellen her gedacht) das Männliche aktiv und das Weibliche passiv ist, während es im Osten (von oben, vom Geistigen her gedacht) umgekehrt ist: männlich ist das in sich Ruhende, weiblich ist das Dynamische. Das entspricht der symbolischen Tatsache, dass das Geistige spiegelbildlich zum Materiellen ist, wie auch das Unbewusste zum Bewussten nach Jung komplementär und kompensierend ist.

 

Von Gott zum Schöpfergott

Allerdings haben wir schon gesagt, dass das Christentum keine westliche, sondern eine nahöstliche Religion ist, die aus der Mitte zwischen Ost und West kommt. Deren östliche Züge gehen aber in der westlichen Sicht verloren. Daher besteht immer der Verdacht, dass die weströmische Religion ihren Ursprung verdrängt und verleugnet hat. Eine Spurensuche könnte aber recht ergiebig sein.

 

Bei Gott „Vater“ müssten wir an die östliche Vorstellung des Ungeoffenbarten, vor jeder Schöpfung in sich Ruhenden denken – und nicht an den „männlichen“ Schöpfergott, der in der Evolution (eigentlich Involution) erst „danach“ kommt. So ist es ursprünglich aber auch gemeint: Das aramäische Wort für „Vater“ ist dasselbe Wort wie das für „Ursprung“, das was vor allem Sein war und ist, somit auch kein persönlicher Gott. „Gott Vater“ hat also nicht das Geringste mit „Vater“ oder „männlich“ zu tun. „Er“ ist auch kein Schöpfergott, sondern der Ursprung vor aller Schöpfung. Das Nichts des Meister Eckhart.

 

Die erste Hinwendung zur Schöpfung, der Schöpfergott, müsste dann bereits die Dualität ausdrücken, also (im symbolischen und kosmischen Sinne) männlich und weiblich sein. Daher tritt Gott in dieser Phase bereits in der Mehrzahl auf. „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. … Als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1.26,27). Damit wäre das Männliche und Weibliche ein für allemal gleichwertig, und die Einstellung des patriarchalen Westens zum Weiblichen schlicht und einfach (symbolisch und religiös) falsch! Die asiatischen Gottheiten haben denn auch einen männlichen und einen weiblichen Aspekt, die in Vereinigung dargestellt werden. Und beide haben überdies einen hellen und einen dunklen Aspekt. Und wenn wir von „Gott“ oder „Götter“ reden, ist noch überhaupt nicht gesagt, worüber wir reden.

 

Die Entwicklung von Anima und Animus

Das wird sofort verständlich, wenn wir an das Jung‘sche Konzept von Anima und Animus denken. Der spirituelle Weg führt nach innen, da braucht es zuerst die Integration des verdrängten Schattens (des dunklen Aspekts), um dann Kontakt mit dem Unbewussten aufzunehmen, das gegengeschlechtlich ist. Anima und Animus haben ihre dunklen und hellen Seiten. Das reicht (psychologisch und symbolisch) vom Dämonischen bis zum Göttlichen. Die Anima kann bekanntlich in der Gestalt einer Hexe, Hure und/oder Göttin auftreten, der Animus als Verbrecher, Macho und/oder Gottheit.

 

Auch in den Märchen geht es sehr oft um die Entwicklung von „Söhnen“ oder „Töchtern“, die eine Entwicklung durchmachen müssen, um reif für die Liebe zu werden – für die Vermählung mit der Königstochter bzw. dem Königssohn, die Vereinigung der Gegensätze in der Chymischen Hochzeit. Das kann man auch als einen inneren Vorgang auffassen. Darum geht es eigentlich im spirituellen Weg oder in der Menschwerdung überhaupt. Nichts anderes bedeutet Religion. Heil oder heilig werden bedeutet ganz werden. Leider wurde das im Westen entweder verkitscht oder idealisiert und jeglicher Menschlichkeit beraubt.

 

Nicht von ungefähr wurde Maria Magdalena (wahrscheinlich erst hinterher) zur Prostituierten stilisiert, nicht unbedingt, weil sie es wirklich war, sondern weil das der Symbolik der unentwickelten Anima entspricht – um dann aber in ihrer Dynamik die Apostelin der Apostel zu werden. In dieser Spannung ist Leben. Da geht es weniger um die historische, als um die symbolische Realität. Das Verhältnis der Mystikerinnen zu Gott oder Christus ist auch ein durchaus erotisches. Da geht es nicht um einen fernen unnahbaren Gott, sondern um einen nahen, intimen Gott, den sie nicht anbeten und verehren, sondern lieben konnten.

 

Die Männer sind in einer patriarchalen Religion eigentlich im Nachteil. Deren Mystik geht wie im Buddhismus, das Weibliche notgedrungen überspringend, in die Erfahrung des Nichts. Das Weibliche gilt als Versuchung und damit hat die Anima der „heiligen“ Männer keine Chance auf Höherentwicklungen. Wer den Sprung ins Nichts nicht schafft, bleibt beim persönlichen männlichen Gott, wodurch (ohne weibliche Ergänzung) das Männliche potenziert wird und unweigerlich in Machtstreben mündet. Die patriarchale Kirche ist das offensichtlichste Beispiel dafür.

 

Im Grenzbereich zum Transpersonalen

Darf eine Religion der Liebe die menschliche Liebe überspringen? Inbegriff dieser Unmenschlichkeit ist der Zölibat. Der Priester soll die Liebe im Himmel finden, in dem es aber nur „Männliches“ gibt, wo seine innere Göttin und Ergänzung nicht zu finden ist. Und wer sie – weil nicht im Himmel, so auf Erden findet, wird ausgeschlossen. Was Wunder, wenn viele dann die (erlaubte) Männerliebe auch wieder auf die Erde holen.

 

Dem Asiaten ist die Götterwelt – und das ist die Welt der Archetypen – näher als die irdische. Im Tantrismus geht es um die Verlebendigung der Anima, des weiblichen Unbewussten des Mannes, und des Animus der Tantrikerinnen. Manche haben auch eine irdische Gefährtin, viele nicht. Darauf kommt es nicht an. Wichtig ist, dem Gegengeschlechtlichen im inneren Götterhimmel näherzukommen. Dadurch entsteht eine Beziehung zur inneren Gottheit, die man lieben kann. Diese innere Gottheit hat noch nichts mit dem zu tun, was wir Gott nennen, und ist doch weit über alles „Irdische“ erhaben – ist psychische Realität und geht doch über das Psychische weit hinaus.

 

Wer das unverständlich findet, der denke an C.G. Jung, für den Archetypen wie eigenständige und bewusste Persönlichkeiten agieren, mit einem Wissen, das weit über das aktuelle Wissen des Ich hinausgeht. Man müsste nur noch darüber nachdenken, was innere Realität bedeutet. Tantrismus ist die Weiterführung dieses Gedankens, nicht abstrakt philosophisch, sondern als experimentelle Erfahrung. Und manche Historiker vermuten, dass der Tantrismus durch den Einfluss der griechischen Gnosis entstanden ist.