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Begegnung zwischen Ost und West /2

Unterschiede zwischen östlichen und westlichen Weltbildern

Wer sich mit Yoga, Buddhismus, Tantra oder Daoismus beschäftigen will, sollte sich über die Unterschiede zwischen Ost und West klar sein. Wir im Westen sind fixiert auf eine Welterklärung, in der der Mensch gar nicht vorkommt und nennen das Naturwissenschaft. Für den Osten ist die Welt Illusion und nur der Mensch als geistiges Wesen (purusha) real. Wir denken evolutiv, alles hat sich aus der Materie heraus entwickelt, der Osten denkt involutiv, alles ist aus dem Geistigen heraus entstanden. Wer das als Alternativen sieht, von denen nur eine wahr sein kann, steht für ein Verständnis von Ost und West auf verlorenem Posten.

 

Aus der Quantenphysik und der Analytischen Psychologie sollten wir inzwischen wissen: Wir brauchen beides, um die Welt und den Menschen zu erklären. Hilfreich ist, dass es diese andere Sicht auch im Westen gibt oder gegeben hat, z.B. in allen mystischen Systemen. Außerdem sollte uns klar werden, dass auch die Menschen in der Antike nicht so gedacht oder besser erlebt haben wie wir heute. Sie lebte noch viel mehr im dunklen, aber ganzheitlichen Mythos, und der ist oder war dem Östlichen viel näher als dem heutigen Westlichen. Wer unser heutiges Denken auf die griechische Antike zurückprojiziert, wird diese nicht verstehen. Aber das nur so nebenbei.

 

Wir sollten auch unsere Vorstellung vom Osten mit der Realität vergleichen. Indien ist nicht voller Yogis! Indien, das ist auch Bollywood und Elektronik. Und der „modernste“ Yogi, Sri Aurobindo, der in England studierte, hat z.B. Evolution und Involution verbunden. Nur ist der weniger bekannt, auch weil er nicht unserem Klischee vom indischen Yogi entspricht.

 

Kollektivität und Individualität

Das Weltbild Asiens ist mehr kollektiv und nicht Ich-bezogen. Da es in spirituellen Systemen um Ganzwerdung geht, wird immer das Gegenteilige betont. Das ist der Grund, warum Yoga in Indien eine individuelle Ausrichtung hat – abgesehen davon, dass es immer in einem Ashram geschieht, aber es geht um die individuelle Beziehung zum Guru, in dem der Chela (Schüler) das Göttliche inkarniert sieht. Und genau das führt zu den größten Missverständnissen, wenn Westler Yoga betreiben.

 

Im Westen steht die Individualität im Vordergrund. Daher müsste ein spirituelles System das Ergänzende, das Soziale, das Verbindende in den Vordergrund stellen. Im Christentum steht daher die Nächstenliebe, das Soziale im Mittelpunkt. Wer also den Yoga so von Indien übernimmt, dass es vor allem um die individuelle Lehrer-Schüler-Beziehung geht, der hat den Yoga nicht verstanden – und die „Lehrer“, die den Yoga in dieser

Form lehren, haben ihn auch nicht verstanden. Denn im Westen wird dadurch nur der Individualismus gefördert und zum Egoismus und Narzissmus (die heutige Betonung der „Selbstliebe“) ausgebaut. Das hat dann mit Yoga nichts zu tun, und die Krise der „modernen“ Gurus im Westen zeigt das sehr deutlich.

 

Ein indischer Yogi muss seine Chelas aus der Kollektivität herausholen. Daher wird er die individuelle Beziehung fördern. Ein authentischer Yoga im Westen muss die Perspektive umdrehen und das Soziale, die All-Liebe in den Vordergrund stellen. Ein authentischer Yoga-Lehrer im Westen müsste daher die (für Inder richtige) Guru-Chela-Bindung torpedieren. Wer liebt, lässt die/den Geliebte/n frei. Der traditionelle Yoga hat autoritäre, hierarchische Strukturen, das ist (oder war) für Indien ok. Im Westen wäre und ist das fatal. Wir sehen das an der Kirche, die das ursprüngliche „Zur Freiheit hat euch Christus befreit“ in patriarchale hierarchische Strukturen gegossen und sich damit beinahe schon selbst zerstört hat. (Wie ein Yoga oder Spiritualität überhaupt in der heutigen Zeit aussehen muss oder könnte, wird noch ein eigenes Thema sein).

 

Ich-Werdung und Überwindung des Ich

Damit zusammen hängt vor allem auch die Rolle des Ich in Ost und West. Der Westen denkt vom Ich und damit vom Bewusstsein her. Dieses fragmentierende Denken hat keinen Sinn für das Ganze. Das Unbewusste (als Nicht-Ich) ist ein Minderheitenthema. Das sieht man auch daran, dass die Tiefenpsychologie bis jetzt kaum Fuß fassen kann.

 

Der Osten denkt vom großen Ganzen her, daher hat das Ich gar keinen Stellenwert. Wenn im Osten vom „Ich“ die Rede ist, dann geht es nicht um eine Individualität, sondern um das Anhaften, die Bindung an die Welt. Die „Auflösung des Ich“ heißt dann nicht Auflösung der Individualität, sondern Loslassen der Bindung an die Welt. Das ist eine völlig andere Perspektive. Auch das Nirvana ist keine Auflösung des Ich, sondern völliges Freisein von allen Bindungen. Der berühmte Tropfen verliert sich nicht im Meer, er wird nur frei von aller Begrenzung.

 

Es geht auch im Osten um Bewusstwerdung. Bewusstsein ist immer „mein“ Bewusstsein, also in gewissem Sinne „individuell“ – Individualität aber in der ursprünglichen Bedeutung: in-dividuum = das Unteilbare, sozusagen das Atom der Innenwelt. (Auch das Atom, a-tomos = das Unteilbare). Auch C.G. Jung bezeichnet das Unbewusste als das Nicht-Ich. Ich ist assoziiert mit dem Bewusstsein, das Unbewusste ist dazu komplementär. Die Archetypen sind für ihn eigenständige Kräfte, die wie eigenständige Persönlichkeiten mit eigenem Wissen – unabhängig vom Ich – handeln. Wenn man Anima/us so betrachtet, ist der Weg nicht weit zu den inneren „Gottheiten“, zu Shiva und Shakti.

 

Erfahrung und Wissen

In spirituellen Systemen geht es um die menschliche Entwicklung und um sonst nichts. Aus der Ich-lastigen Perspektive des Westens geht es daher über das Bewusstsein, über das Ich hinaus – in die Tiefe des Unbewussten: je tiefer, desto kollektiver. Wir müssen aus dem begrenzten Ego herauskommen, mit dem Ziel der All-Liebe, d.h. der Verbindung mit allem und allen.

 

Der Inder muss erkennen, dass dieses ihm so selbstverständliche unpersönliche All er selbst, und damit sein eigenes Bewusstsein ist. Der Europäer muss erkennen, dass sein individuelles Bewusstsein letztlich überpersönlich ist: Ich bin in allem und alles ist in mir. Nicht „das bist du“ (tat twam asi), sondern „du bist alles“, du bist verbunden mit allem, das wäre die westliche Version.

 

Aber es geht nicht um eine Philosophie, sondern um Erfahrung. Yoga oder Buddhismus sind reiner Pragmatismus. Der Buddha redet nicht über Transzendentes, weil es keinen Sinn hat, darüber zu reden. Aber es gibt einen Weg, und den musst du gehen.

Natürlich braucht es auch Wissen – die Erfahrung muss eingeordnet und verstanden werden. Aber Wissen allein ist nichts. Östliche Philosophie (und westliche Mystik) gibt es nur als Erklärung von Erfahrungen. Für sich genommen wären es nur unbedeutende Gedankenspiele.