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Begegnung zwischen Ost und West

1.   C. G. Jung und die östliche Psychologie

Die Beschäftigung des Westens mit dem Osten hat eine lange Geschichte. Trotzdem ist die Frage, wie sinnvoll oder gar gefährlich diese Beschäftigung sei, immer noch offen. Im Gegenteil: In unserer polarisierenden Zeit wird auch dieses Thema immer mehr durch die schwarz-weiße Brille gesehen. Da solche Fragen nicht mit Ja oder Nein zu beantworten sind, wollen wir uns in einer Artikel-Serie ausführlicher damit beschäftigen.

 

Goethe und Herder, Schopenhauer und Nietzsche, Wagner und Rilke beschäftigten sich mit östlichen Kulturen, und natürlich hatte jeder seinen eigenen Zugang dazu. Um 1900 nahm das Interesse zu, ermöglicht durch die europäische Kolonialisierung. So ist nichts im Leben nur negativ oder nur positiv, sondern immer in verschiedener Hinsicht beides. Schon das ist eine Lehre aus dem östlichen Denken.

 

Trotzdem ist die Frage bis heute nicht beantwortet: Ist es überhaupt sinnvoll, sich mit Yoga, Tantra, Buddhismus oder Daoismus zu beschäftigen, oder wäre es nicht besser, in unserer eigenen Kultur zu bleiben?

 

Der erste, rein äußerliche Zugang zu einer möglichen Antwort wäre der, dass sich Ost und West nie gänzlich isoliert entwickelt haben. Stichwort Seidenstraße oder die großen Weltreiche Alexanders des Großen oder das römische Reich. Jerusalem war vor 2000 Jahren ein Schmelztiegel aller Kulturen dieser Welt, zumindest von Afrika bis Asien.

 

Ein psychologischer Zugang wäre es, die Weltbilder von West und Ost als komplementär zu betrachten, also als Gegensätze, die komplementär zusammengehören. Damit ist – grob mit C.G. Jung gesprochen – der Westen extravertiert, die Welt mittels Wissenschaft erobernd, und der Osten introvertiert, die Innenwelt mittels Meditation erschließend. Völlig gegensätzliche Charaktere, auch der ersten und der zweiten Lebenshälfte entsprechend. Aber tatsächlich vermischt sich das heute immer mehr, indem Asien die Naturwissenschaft übernommen hat, und sich Yoga, Buddhismus, Zen und Daoismus im Westen verbreiten. Das ist Faktum, beantwortet aber noch nicht unsere Frage.

 

In unserer polarisierenden und polarisierten Welt wollen die einen die westliche Kultur „rein“ erhalten (als ob das möglich wäre), während die anderen alles Asiatische unreflektiert aufsaugen. Ersteres führt in letzter Konsequenz in die rechte Szene, letzteres in eine Esoterik, die alles Östliche assimiliert. Einer, der immer in die letztere Kategorie gezählt wird, ist C.G. Jung. Seine Analytische Psychologie war damals etwas völlig Neues und Exotisches, und wurde schon mit Yoga verglichen, noch bevor sich Jung selbst damit beschäftigte. Später wird er laufend von Esoterikern vereinnahmt und missbraucht, so dass es interessant ist, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen:

 

Insofern ich die […] psychoanalytische und […] psychosynthetische Methode ebenfalls als ein Mittel zur Selbstvervollkommnung betrachte, erscheint mir ihr Vergleich mit der Yogamethode durchaus einleuchtend. Es scheint mir aber […], dass es sich bloß um eine Analogie handelt, da heutzutage allzu viele Europäer geneigt sind, östliche Ideen und Methoden unbesehen in unsere abendländische Mentalität zu übersetzen.“ (Aus einem Briefwechsel zwischen Jung und Oskar Schmitz. Kundalini-Yoga S. 19)[1].

 

Jung sah es einerseits als notwendig an, sich mit östlichen Kulturen zu beschäftigen, und warnte andererseits vor einer gedankenlosen Übernahme. So stammte sein Begriff des Mandala von dort, ebenso wurde seine Auffassung vom Positiven des Negativen durch seine Eindrücke in indischen Kali-Tempeln angeregt und im Begriff der Komplementarität[2], den er aus dem Daoismus übernommen hat, näher gefasst. Auch sein Konzept des kollektiven Unbewussten festigte sich durch die Beschäftigung mit dem Osten. Umgekehrt war für Jung die mittelalterliche Alchemie eine westliche Art des Yoga (S. 46).

 

Die Analytische Psychologie bietet erstmals in der westlichen Psychologie die Möglichkeit, jenseits einer Therapie der Neurosen zur höheren Entwicklung des Menschen beizutragen. Damit rückt sie in die Näher östlicher Systeme, denen es nie um eine Theorie geht, sondern um eine Praxis zur Entwicklung des Bewusstseins. Dabei haben Ost und West eine je eigene historische Entwicklung. „Das abendländische Bewusstsein ist unter keinen Umständen das Bewusstsein schlechthin. Es ist vielmehr eine historisch bedingte und geografisch beschränkte Größe, welche nur einen Teil der Menschheit repräsentiert.“ (S. 47) Damit wird aber auch klar, wie wichtig die Beschäftigung mit dem anderen Teil ist: „Die Kenntnis der östlichen Psychologie bildet nämlich die unerlässliche Basis zu einer Kritik und zu einer objektiven Erfassung der westlichen.“ (S. 48).

 

Für Jung ist somit die Beschäftigung mit Asien unbedingt notwendig für eine Psychologie, die diesen Namen verdient. Andererseits warnt er strikte davor, die östlichen Wege einfach in den Westen zu übertragen. Die östlichen Symbole einfach nur zu übernehmen wäre sogar gefährlich, weil sie „Fremdkörper in unserem System“ wären, die das natürliche Wachstum und die Entwicklung der eigenen Psychologie hemmen. „Das führt zu einer Art Wachstum aus zweiter Hand oder gar zur Vergiftung.“ (S. 72)

 

Jung beschäftigte sich nicht nur mit Yoga, Tantra und Daoismus, sondern auch mit der modernen Physik. Von daher ist etwas klar, das für die Physik ganz ähnlich wie für die Psychologie gilt. In der Quantenphysik war es ein völlig neues Element, dass jede Messung das Gemessene verändert, und daher eine Beschreibung der Natur ohne Einbeziehung des Messapparats gar nicht möglich ist. In der Psychologie ist klar, dass jegliche Wahrnehmung das Wahrgenommene verändert.

 

Das gilt aber auch für die Beschäftigung mit asiatischen Kulturen, durch die das Östliche bereits verändert wird. Das heißt, der Yoga im Westen kann nicht der Yoga sein, wie er im Osten praktiziert wird. Er trifft hier auf die westliche Psyche. Was aber auch kein Freibrief sein darf, daraus willkürlich etwas zu machen, das mit dem östlichen Yoga nichts mehr zu tun hat. Das aber ist das Problem des heutigen Yoga im Westen. Doch das ist ein eigenes Thema…

 



[1] Alle Zitate aus C.G. Jung: Die Psychologie des Kundalini-Yoga, Edition C.G. Jung im Patmos Verlag, 2. Aufl. 2020

[2] Etwa zeitgleich hatte auch Niels Bohr den Begriff Komplementarität für die Dualität von Teilchen und Welle in der Physik übernommen.