Vom Weg zum Ziel – Vom Werden und Sein

Aktuell wird es gerade wieder überdeutlich, wie sehr wir in der Polarität leben. Es gibt beinahe nur Corona-Hysteriker und Corona-Leugner. Es ist, als hätten wir nie denken gelernt! Aber es wird hier etwas offenbar, das unser gesamtes Leben durchzieht – bis hin zum Weltbild, in dem wir leben, und bis hin in die Religion.

 

Letztlich lässt sich die Polarität nicht denken ohne Einheit und die Einheit nicht ohne Polarität. Und trotzdem polarisieren wir zwischen Einheit und Polarität! Womit ersichtlich wird, dass es nicht um Einheit versus Polarität oder Vielheit geht, sondern um die Einheit von Einheit und Polarität oder Vielheit. Leider sind wir konditioniert wie die Pawlow’schen Hunde auf das Aristotelische Entweder-Oder, statt zu erkennen: Wir brauchen von Gegensätzen immer beide.

 

Das Entweder-Oder-Denken führt zum Monismus – aber durch den Ausschluss des „Oder“ nur zu einem Pseudomonismus. Auch der Materialismus oder Szientismus ist so ein Pseudomonismus, der alles auf Materie zurückführen muss, aber das „Alles“ nicht eliminieren kann. Genauso kann eine bloß monotheistische Religion die duale Welt nicht leugnen, sondern (ver)führt dazu, das was sie mit „Gott“ meint, in die weltferne Abstraktion zu verbannen, wo sie oder er für das (immer widersprüchliche) Leben völlig bedeutungslos wird.

 

       Es geht nicht um Einheit oder Vielheit, sondern um die Einheit von Einheit und Vielheit.

 

Wir brauchen beides. Es geht nicht das eine ohne das andere. Und bei genauerem Hinsehen ist jedes einseitige Weltbild (egal ob Monotheismus oder Materialismus) nichts als abstrakte Ideologie. Nehmen wir im Religiösen das Christentum und den Hinduismus, Prototypen für den Monotheismus und den Polytheismus. Es ist bei einigem guten Willen unschwer zu erkennen, dass es im Christentum um einen Weg in der Welt des Dualismus geht. Der (Pseudo-)Monotheismus betont bis zum Exzess den Dualismus von Hell und Dunkel, Gut und Böse, Himmel und Hölle – wobei die Symbolik dieser Begriffe gar nicht verstanden wird. Doch das ist ein anderes Thema.

 

Aber durch diesen dualistischen Schatten der Einheit, dieses Schwarz-Weiß-Denken, rückt der „monotheistische“ Gott in so weite Entfernung, dass sein beim Menschen Sein als kindisch oder bestenfalls als abstrakt empfunden wird. Andererseits gibt es im angeblich polytheistischen Hinduismus auch eine Trinität (Sat-Chit-Ananda) und auch den einen Gott – auch wenn der in verschiedenen Regionen verschiedene Namen hat.

Auch Ost und West bilden so eine Dualität. Der Westen, der die Außenwelt erobert und die Naturwissenschaft erfunden hat, und der Osten, den mehr die Innenwelt interessiert, die er (zumindest traditionell) mit Meditation erschießen will. Natürlich gibt es auch Kontemplation im Westen und Logik im Osten, aber eben nur als Schatten. Außerdem vermischen sich heute die Gegensätze zunehmend. Was daran liegt, dass es nicht unvereinbare Gegensätze sind, sondern solche, die komplementär aufeinander bezogen sind, weil sie ohne einander gar nicht auskommen.

 

       Religion ist nicht die Anbetung der Wahrheit, sondern das ständige Gehen, sich Entwickeln – und zwar                 mitten im Leben.

 

Was aber bedeutet das für das Generalthema unseres Blogs „Wege zum Menschsein“? Die einseitige Sicht auf die Einheit lässt den Weg verschwinden. Jegliche Dynamik wird von einer abstrakten Einheit überlagert und verdeckt. Die „Bewahrer“ reden nur mehr von der „Wahrheit“, und sie vergessen das „Du sollst dir kein Bild machen“. Dabei werden vom „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ zwei Drittel unterschlagen. Religion ist nicht die Anbetung der Wahrheit, sondern das ständige Gehen, sich Entwickeln – und das mitten im Leben. Eine Kirche, die keinen Weg aufzeigen kann und die am Leben vorbei geht, betreibt ihre Selbstvernichtung, und wenn sie sich noch so sehr im Besitz der Wahrheit wähnt.

 

Nur die Psyche ist das, was uns unmittelbar zugänglich ist, sagte C.G. Jung. Es führt somit kein Weg an der Psychologie vorbei, die das Leben und die Entwicklung im Leben analysiert. Leben ist das, was den Widerspruch in sich enthält (Hegel), wo die Gegensätze komplementär zusammengehören. Es geht daher in der heutigen Diskussion weder um eine alternative Religion, noch um eine Alternative zur Religion. Aber Spiritualität ist eine Dimension menschlichen Seins und Lebens, die man nicht eliminieren kann, ohne den Menschen zum Torso zu machen.

 

Psychologisch darf man die grundlegende Dualität zwischen Männlich und Weiblich nicht vergessen, und zwar nicht konkret als Mann und Frau gemeint, sondern symbolisch, als Dualität, die den gesamten Kosmos durchzieht. So gibt es auch einen männlichen und einen weiblichen Weg – auch wenn das nichts mit den Stereotypen von Mann und Frau zu tun hat. Aber auf den Weg bezogen, verführt diese Dualität wieder zur Einseitigkeit.

 

       Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies und Flucht in eine (so gar nicht) erwachsene Welt.

 

So erklärte Friedrich Nietzsche Gott für tot und setzte an seine Stelle den Übermenschen. Durch das eigene Tun, die eigene Anstrengung, die Selbstüberwindung als (ebenso einseitige) männliche Tat versuchte Nietzsche dem Matriarchat seiner Kindertage zu entfliehen. Die Flucht ins andere Extrem ist aber nie die Lösung. Ebenso versuchte Jean Paul Sartre, dem mütterlichen Gefängnis durch das Postulat absoluter Freiheit zu entkommen. Auch Antoine de Saint-Exupérys Leben war eine Verherrlichung der Fliegerei und männlicher Kameradschaft als ständige Flucht vor einer überfürsorglichen Mutter. Eine Flucht ins Heldendasein bei gleichzeitiger Sehnsucht nach der Kindheit („Der kleine Prinz“) und Angst vor der Frau.[1]

Alle drei flohen aus Angst vor der mütterlichen Welt und setzten eine genauso einseitig männliche dagegen: die Verherrlichung des eigenen Tuns, der eigenen übermenschlichen Anstrengung (Nietzsches Übermensch), der männlichen, militärischen Kameradschaft (Saint-Exupéry), der unbedingten Freiheit (Sartre) – eine männliche Gegenwelt (mit adrenalinwertigen Idealen) zur überfordernden mütterlichen Welt, der sie trotzdem nicht entkommen konnten.

 

       Selbsttranszendenz ist – durch Anstrengung und Erwarten – immer bidirektional.

 

Denselben Streit haben wir im Christentum in der Frage, ob es zur Erlösung nur der eigenen Anstrengung bedarf, oder ob es ausschließlich auf die göttliche Gnade ankommt. Dass beides falsch, weil einseitig ist, sollte jetzt schon klar geworden sein. Die einen erwarten alles von einem äußeren Ziel, ohne gehen zu müssen – die anderen vergöttlichen den Willen zum Gehen, ohne sich um ein Ziel zu kümmern. Die einen sehen nur die Wahrheit, oder was sie als Wahrheit (nicht) verstehen, die anderen sehen nur den Weg und die eigene Anstrengung.

 

Deshalb ist beides (Weg und Wahrheit) nicht denkbar ohne Leben. Das Leben ist keine abstrakte Wahrheit, sondern in sich widersprüchlich. Daher ist der Weg im Leben auch kein bloßes Gehen, sondern Gehen auf ein Ziel hin, aber auf ein Ziel, das nicht sichtbar, gar nicht vorstellbar ist. Das Ziel bleibt immer jenseits des Horizonts. Das heißt, auch mit dem bloßen Gehen und Tun im Sinne Nietzsches, Sartres oder Saint-Exupérys ist es nicht abgetan. In religiöser Sprache: Die bloße Anstrengung ist genauso einseitig wie die bloße Erwartung der Gnade (sola gratia).

 

Global gesehen ist es die „Selbsterlösung“ (von Christen den asiatischen Religionen unterschoben) oder der „Erlösung“ durch die Gnade Gottes. Natürlich ist das gröbstes Schulbladendenken, aber es zeigt doch, dass es auch im Globalen um eine Dualität geht, der nur durch Komplementarität zu entkommen ist. Wir brauchen beides! Auch der Weg des Yoga ist keine Selbsterlösung, schon weil der Weg weit über sich hinaus geht. Und ohne eigene Anstrengung werden wir auch im Christentum lange (und vergeblich) auf die Gnade warten. Oder in weniger religiöser Sprache: Der Mensch ist immer mehr als Mensch (David Steindl-Rast), und: Der Mensch ist immer weniger als Mensch (Claudia Castigliego-Paganoni). Mehr, weil er sich selbst immer überschreiten kann, und weniger, weil er das, was er sein kann, nie auch schon ist.

 

       Es braucht das Gehen und es braucht das Offen-Sein für das, was mir begegnet.

 

Die Wahrheit ist unsichtbar und unbewusst, tief im Innersten, daher genauso nah wie unendlich fern. Mit Wahrheitsfanatismus wird sie nur noch mehr zugedeckt. Es bringt nichts, über die Wahrheit zu diskutieren oder die eigene Wahrheit über die der anderen zu stellen. Damit ist die Wahrheit bereits verloren.

 

Das Leben ist in sich widersprüchlich, und keine Logik kann diese Widersprüchlichkeit eliminieren. Wer Eindeutigkeit will, muss auf Lebendigkeit verzichten.

 

Der Weg bedeutet Dynamik, Entwicklung. Er ist nicht das Ziel, aber ohne Ziel ist er blind. So wie das Ziel ohne Weg gar kein Ziel wäre. Eine Vorstellung des Zieles ist aber nie das Ziel.

 

Beim Gehen haben wir ein Ziel vor Augen, ohne dieses sehen zu können. Das heißt nichts anderes als dass (die symbolisch männliche) Anstrengung genauso einseitig falsch ist wie das (symbolisch weibliche) umsorgt Sein durch eine automatische Gnade.

 

Es braucht beides: Ich muss selbst gehen (im Bewusstsein, dass ich die Richtung immer wieder korrigieren muss), und ich muss offen sein für das, was mir begegnet. Das kann ich weder (symbolisch männlich) vorausberechnen, noch kann ich es (symbolisch weiblich) erwarten. Es braucht das Tun und es braucht das Offensein. Nur beides zusammen ermöglicht Entwicklung.

 

 



[1] Zum Vergleich dieser drei siehe Eugen Drewermann: Das Eigentliche ist unsichtbar. Der kleine Prinz tiefenpsychologisch gedeutet. Herder 2015