Unchained psychosis – Leben im Ausnahmezustand / Eine Autobiographie

Die Biografie beginnt dankenswerterweise nicht mit der Psychose, sondern mit der Kindheit. Einer – wie nicht anders zu erwartenden – traumatisierenden Kindheit. Wer ehrlich ist, wird sich zugestehen, dass das uns alle angeht. Traumatisiert durch das Elternhaus sind wir alle mehr oder weniger. In diesem Fall eben mehr. Die Autorin schildert das knapp und diskret, trotzdem weiß man, worum es geht.

 

Die vorliegende Biografie zeigt, was passieren kann, wenn ein Kind nicht es selbst sein darf. Wenn es in ein Korsett gezwängt wird, das jedes Eigenleben abtötet. Die Folge: Es kann kein Ich entwickeln und ist der Umwelt wehrlos ausgeliefert. Es kann nicht wirklich Ich sagen, und es kann damit auch nicht nein sagen, sich nicht abgrenzen. Es hat nie gelernt, sich zu widersetzen. So wird das, was nicht ist, von jedem, der will, missbraucht. Auf allen Ebenen und natürlich auch sexuell.

 

Wenn dann die Eltern wie gewohnt mit Ablehnung und Unverständnis reagieren, dann kommt zum sexuellen Missbrauch, um das Maß voll zu machen, auch noch der Missbrauch durch das elterliche Unverständnis dazu. Es ist ja das Kind, das „mitgegangen“ ist. Und so ist der Boden bereitet für eine Laufbahn in der Kriminalgeschichte oder der Psychiatrie. In dem Fall trifft letzteres zu. Vorbereitet durch „paranormale“ Erlebnisse schon in der Kindheit – was nicht so selten ist – über die zu sprechen natürlich unmöglich ist.

 

Und dann trifft dieses bedauerliche Schicksal noch auf ein Gesundheitssystem, das total versagt. So geht alles schief, was in unserer Gesellschaft schief gehen kann, deren Weltbild die klassische Physik ist, und die von Psychologie keine Ahnung hat. Man muss daher dieses Buch nicht bloß als tragisches Einzelschicksal lesen, sondern als Totalversagen der modernen Gesellschaft.

 

Missbraucht von Bekannten, Fremden und den Eltern, die – meist selbst traumatisiert – jede Persönlichkeitsbildung unterdrücken, missbraucht von Männern, die selbst nicht Mann geworden sind, zurückgegeben den Eltern, die das verniedlichen und das Kind gar nicht ernst nehmen. Dann psychotisch zu werden, ist beinahe die natürliche Entwicklung daraus.

 

Doch dann folgt die nächste Katastrophe: das Totalversagen des – ach so modernen – Gesundheitssystems. Die Autorin fällt, psychotisch geworden, in die Hände einer unerfahrenen Psychiaterin, die, zwar mit großem Engagement und Empathie, keine Ahnung hat von der menschlichen Psyche. (Ohne Ausbildung in Psychotherapie sollte es eigentlich verboten sein, in der Psychiatrie zu arbeiten). Sie kennt sich aber auch in ihrem Fach (noch) nicht wirklich aus. Zwar sind Beipackzettel immer problematisch, aber sie zu ignorieren, kann buchstäblich tödlich sein.

 

Die Autorin wird statt in eine Heilung oder Linderung in die Medikamentensucht getrieben. Eine Entzugsklinik, die mit offensichtlich untauglichen Mitteln nur eine experimentelle Entgiftung des Körpers anstrebt, ohne den Menschen in diesem Körper zu beachten, verdient ihren Namen auch nicht wirklich. Psychiatrie ohne Psychotherapie sollte verboten werden. Siehe oben.

 

Wobei in dem Fall sogar Psychotherapie zu wenig gewesen wäre, da könnte nur Traumatherapie helfen, die es aber noch kaum gibt. Die Kasse zahlt ohne mit der Wimper zu zucken Psychopharmaka, die in der Hand von Ärzten, die nur mit Medikamenten (nicht) umgehen können, zu Waffen werden, deren Folgeschäden dieselben Kassen dann lebenslänglich offenbar gerne tragen. Psychotherapie und Traumatherapie wäre – aufbauend auf medikamentöser Vorarbeit, die sicher auch notwendig ist – sinnvoller und sowohl in menschlicher als auch ökonomischer Hinsicht weit wirkungsvoller.

 

 

Soweit die Einführung in eine Biografie, die alles das exemplarisch demonstriert. Erzählt wird von einem Grenzbereich zwischen Psychose und Spiritualität. Und man täte solchen Patienten unrecht, wenn man das Geschehen auf das eine oder das andere reduziert, oder nicht imstande wäre, beides zu sehen. Die Psychose selbst ist ein Ritt durch die Hölle. Und doch muss jemand, der helfen will, auch Halluzinationen als manifeste Erlebnisse ernst nehmen. Sie aufzulösen geht erst am Ende des Weges.

 

Die Psychose, die Schizophrenie (Diagnosen sind bloß meist unverstandene Etiketten) ist eine Art Durchlässigkeitsstörung. Da bricht etwas unkontrolliert durch, aus dem Unbewussten, aus einer anderen Welt – für C.G. Jung war es nicht so wichtig, ob man das so oder so bezeichnet – und nicht per se, sondern weil es nicht kontrolliert werden kann, ist es krankhaft. Die Psychiatrie ist mit ihrem einseitigen Körperbewusstsein dafür eigentlich nicht zuständig, jedenfalls völlig überfordert. Sie versteht sich als „naturwissenschaftliche Medizin“ – leider kommt in der Naturwissenschaft der Mensch nicht vor, um den es in der Medizin aber gehen sollte.

 

Es gibt auch eine andere Seite. Da wäre zunächst ein Grundvertrauen in etwas, das den Menschen bei weitem übersteigt, und das man auch Gott nennen könnte, wenn der Begriff nicht ebenfalls derart missbraucht wäre. Ein Vertrauen, das aufgrund der Vorgeschichte beinahe unwahrscheinlich erscheint. Es ist vielleicht gewagt zu sagen, dass „psychiatrische“ Zustände nicht nur negativ sind und dass es da durchaus helfende Einflüsse aus dem Unbewussten oder einem „Jenseits“ gibt – je nachdem, wie man das bezeichnen will (siehe wieder C.G. Jung), aber wäre es nicht hilfreicher, auf diese inneren Selbstheilungskräfte einzugehen, als flächendeckend alles mit Medikamenten niederzubügeln? Die Psychiatrie ist dazu nicht imstande, aber ein Gesundheitssystem, das keine menschliche Hilfe in Form von Psychotherapie, Traumatherapie und spiritueller Begleitung anzubieten weiß, verdient die Bezeichnung „Gesundheitssystem“ nicht.

 

So ist es nur logisch, dass die Autorin das Vertrauen in diese pseudo-naturwissenschaftlichen Einrichtungen verloren hat und menschliche Hilfe nur außerhalb zu finden war. In Form von halb oder nicht verstandenen „Kräften“ und Eingebungen, einer Art inneren Führung, und letztlich in Gestalt eines kongenialen Lebenspartners, der das einbringt, was Psychopharmaka, Tranquilizer und Antiepileptika samt der bloß verschreibenden Ärzteschaft nicht zu geben imstande waren: Verständnis, Einfühlungs- und Durchhaltevermögen – und das Eröffnen eines Weges. So darf die individuelle Katastrophe in eine gemeinsame Entwicklung münden, die allein heilsam ist.

 

 

Alles in allem ein wohl für viele schwerverdauliches Buch, das aber genau deswegen jeder und jedem zu empfehlen ist, der/die über das Leben nachzudenken gewillt ist. Und wahrscheinlich ist es so, dass man an extremen Biografien mehr lernen kann als an alltäglichen oder durchschnittlichen Verläufen. Stoff zum Nachdenken gibt es in dieser Biografie genug. Haben wir unser Leben nicht auf ein unerträgliches Mittelmaß eingeschränkt? Dessen Grenzen zu sprengen ist unser aller Aufgabe. Die Grenzen des Bewusstseins zu sprengen, das ist immer ein Abenteuer und nicht ungefährlich. Selbst C.G. Jung kam damit an die Grenze zur Psychose (siehe sein „Rotes Buch“).

 

Es sollte nicht in Wahnideen und Medikamentensucht abdriften, aber gefährlich oder zumindest abenteuerlich ist die Begegnung mit sich selbst immer. Da ist es durchaus hilfreich, sich über Wege und Umwege zu informieren. Ein Buch, das wie das vorliegende, unaufdringlich über extreme Abgründe informiert, über Einbrüche aus dem Unbekannten und die heilsame Wirkung einer Partnerbeziehung, ist fast ein Meilenstein auf dem Weg ins (eigene) Unbekannte.

 

 

Unchained psychosis – Leben im Ausnahmezustand

Eine Autobiographie


Engelsdorfer Verlag 2020, broschiert

EUR 15,00

ISBN-13: 978-3961459704