Wieder lebendig werden

Platons Philosophie war eine Metaphysik des Lebendigen. Sein Sokrates kommunizierte mit Menschen. Platons Philosophie war kein System, keine Lehre, sondern immer Dialog. Aristoteles hat ihm vorgeworfen, sich nicht mit dem Seienden, sondern (nur) mit dem Menschen zu befassen. Seither ist Philosophie vor allem Welterklärung, und in der Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts ist das Lebendige endgültig aus dem Denken verbannt.

Das Weltbild der klassischen Physik ist – obwohl es für die damalige Zeit so revolutionär war wie 300 Jahre später die Quantentheorie – unterstützt durch die Aufklärung im Laufe der Zeit zum allgemeinen Weltbild geworden. Descartes unterschied das ausgedehnte Sein (res extensa) vom denkenden Sein (res cogitans), wobei mit „res“ schon angedeutet ist, dass es immer nur um eine „Sache“ geht. Wissenschaft ist fortan nur das, was sich auf das ausgedehnte Sein beschränkt. Nur um das „Objektive“ hat es zu gehen, alles Subjektive wird aus der Wissenschaft verbannt. Wissenschaft ist Analyse der „Welt“ unter Ausschluss des Subjektiven, heißt unter Ausschluss des Menschlichen und des Lebendigen[1].

 

Daher geht es seither in der Physik um die „tote“ Materie, um Gegenstände und „Objekte“, nicht um das forschende und möglicherweise sogar erkennende „Subjekt“. Daher hat auch die sich naturwissenschaftlich gebärdende akademische Psychologie herzlich wenig mit der lebendigen Psyche zu tun, und die (Tiefen-)Psychologie wenig mit Naturwissenschaft im klassischen Sinne. Und auch das heutige Weltbild, das sich noch immer an die klassische Physik des 19. Jahrhunderts anlehnt, ist mehr oder weniger seelenlos und unlebendig. Nur in der Sprache ist noch das Psychosomatische (die Verbindung von Welt und Psyche, von außen und innen, von Objektivem und Lebendigen) erhalten, was uns aber für gewöhnlich gar nicht auffällt.

Psychologisch kann man das auch als die Dominanz des männlichen Objektdenkens nennen, der das weibliche – und lebendige – Beziehungsdenken fehlt. Erich Fromm beschrieb daher das Grundübel unserer Zeit als „Nekrophilie“, den Hang zum Toten, der er die notwendige „Biophilie“, die Liebe zum Lebendigen gegenüberstellte. Objekte kann man nur haben, lebendig muss man sein. Für C. G. Jung müssen diese beiden Seiten, die männliche und die weibliche in jedem Menschen, in Einklang gebracht werden. Den gelingenden Prozess der Vereinigung nannte er Individuation. Dazu müssen die alten Gegensätze von Logos und Eros, von Ratio und Emotion, in Einklang gebracht werden.

 

Wie nahe beieinander das eigentlich ist, zeigt uns die Pubertät, die Zeit des Erwachens des Eros, die gleichzeitig auch in einer „philosophischen Krise“ mündet. Die Abhängigkeit von den Eltern wird abgeschüttelt, ihre dogmatischen Normen und moralischen Vorgaben (Freuds Über-Ich) werden infrage gestellt und ein eigenes Wertesystem – oft im Gegensatz zu den Eltern und damit immer noch von ihnen abhängig – muss aufgebaut werden. Nachdem Psychologie in einer materialistischen Zeit keine Rolle spielen darf, mündet dieses Ringen um Eigenständigkeit sehr oft in neuer Abhängigkeit – vom Partner, vom Geld, von der Arbeit, vom Markt, oft auch von Ideologien.

 

Bevor das, was Jung Individuation nennt, nicht geschafft ist, gibt es auch keine Freiheit. Unsere heutige Zeit macht den Eindruck eines pubertierenden Lebens. Was zählt ist Selbstbehauptung, Aggression, Konkurrenz, Ausgrenzung bis hin zum Rassismus – der Schatten der Männlichkeit. Derzeit erleben wir den pubertären Aufstand gegen den „Mainstream“, gegen das staatliche Über-Ich. Gelingen könnte dieser „Aufstand“ aber nur dann, wenn das (weibliche) Verbindende, das Gemeinsame ebenso zum Zug käme. Erst dann könnte man die Situation analysieren, das heißt, die verschiedenen Aspekte eines Problems differenzieren und zu einer konstruktiven Lösung kommen. Solange mit „Aufwachen“ nur die pubertäre Opposition um jeden Preis gemeint ist, kann es keine wirkliche Entwicklung geben.

 

Das Positive daran ist aber die Sehnsucht nach Freiheit, das sich Befreien aus Abhängigkeit. Das Abschütteln der Fremdbestimmung, so sie denn gelingt, führt zunächst in eine totale Orientierungslosigkeit. „Die Freiheit des eigenen Lebens aber beginnt zunächst einmal mit einer vollständigen Richtungslosigkeit“, schreibt Eugen Drewermann in seiner Deutung des Märchens vom Schneewittchen [2]. Verständlich, dass diese Phase mit Angst verbunden ist, dass hier sogar eine Grundangst des menschlichen Lebens zutage tritt.

 

Bei heranwachsenden Männern konvertiert diese Angst sehr oft in einem übertriebenen Machogehabe, demonstrativen und oft gefährlichen Mutproben und Abwertung alles anderen, insbesondere des Weiblichen. Dies wäre genau der verkehrte Weg. Statt das Weibliche zu unterdrücken – außen wie innen – müsste es integriert werden. Statt sich gegen die anderen zu stellen und alle nicht „Zugehörigen“ auszugrenzen, müsste alles Fremde als Bereicherung angenommen und integriert werden.

 

Jedenfalls kann man die Angst nicht durch Mut überwinden, sondern nur durch Vertrauen (Drewermann). Das ist dem männlichen Objektdenken natürlich suspekt, weil sich Vertrauen nicht an ein „Objekt“ richten kann. Vertrauen setzt ein Lebendiges und Verbindendes voraus, das aber über das Zuhandene hinausreicht in einen Horizont, von dem man weiß, es ist nicht das Ende, und wenn ich ihm näherkomme, weicht er zurück in ein immer Unnennbares.

 

Wer dies als Vertrauen in Gott interpretiert, der wird nicht von der Stelle kommen, weil damit die Eigenverantwortung, die in der Freiheit mitzudenken ist, an etwas Äußeres abgegeben wird. Dogmatische Religionen führen in eine neue Abhängigkeit, die genau das verhindert, was Religion sein sollte. Religio ist Rückbindung, aber nicht an ein Jenseits und an einen fernen Gott, sondern an eine innere Welt, in der es auch einen Horizont gibt, der immer etwas offenlässt und unergründlich ist. Jung nennt diese Ganzheit der Psyche oder des Seelischen das Selbst, und er sagt dazu, dass dieses Selbst (symbolisch oder archetypisch) den Gottesbildern entspricht.

 

Die Symbolsprache kennt keine Trennung von Innen und Außen. Daher ist das, was uns die Religionen, die ihre eigenes (Symbol-)Sprache nicht mehr verstehen, als Gott vor Augen stellen wollen, vor allem in der inneren Welt. Nur tief im Grund der Seele finden wir das, was wir Gott nennen (Meister Eckehart). „Du bist mir näher als ich mir selbst bin“ (Augustinus). Der Weg der Spiritualität führt somit über die Psychologie und durch die Psyche.

Dazu müssen wir außerdem unser an der Physik des 19. Jahrhunderts und an der toten Materie orientiertes Weltbild erweitern um das Lebendige. Einen Schritt in diese Richtung hat die Physik schon vor 100 Jahren vollzogen in der Quantentheorie. Eine Beschreibung der „Welt“ ist nicht mehr möglich ohne Einbeziehung des Messapparates. Das Messen (nicht das Bewusstsein!) verändert das Gemessene.

 

Naturwissenschaft ist aber auch nicht Beschreibung der Natur, sondern unseres Sehens der Natur. Das kann uns zeigen, wie Wahrnehmen funktioniert. Auch die Wahrnehmung verändert das Wahrgenommene. Auch das Sehen ist ein Messen. Wahrnehmung ist kein Abbilden einer objektiven Welt. Objekt und Subjekt sind Abstraktionen vom Prozess des Wahrnehmens. Es gibt zwar eine Welt unabhängig von uns, aber wir sehen sie immer nur so, wie wir innerlich selbst sind. Wie wir die Welt sehen, so sind wir. Wir können uns in der Welt selbst sehen. Und wir können unser Sehen bewusst machen, indem wir die innere Welt betrachten.

 

Die Auseinandersetzung mit der inneren Welt, mit den Archetypen (Persona, Schatten, Anima/us, der Held, der/die Alte Weise, das Selbst) ist das Lebenswerk C.G. Jungs (Analytische Psychologie), das allerdings noch genauso wenig wie die Quantenphysik in ein allgemeines Weltbild eingegangen ist. Die Beschäftigung mit Quantenphysik und Analytischer Psychologie ist allerdings spannender als jeder Kriminalroman. Es wäre ein Schritt in Richtung eines Weltbilds der Lebendigkeit. Womit sich der Kreis zu Platon schließt.

 



[1] Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus 6,51: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen Fragen der Wissenschaft beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“

[2] Eugen Drewermann, Landschaften der Seele oder Wie wir Mann und Frau werden. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, Band 4, Patmos Verlag, aktualisierte Ausgabe 2015, S. 160