Spiritualität und Leben

„Ich bin der WEG, die WAHRHEIT und das LEBEN“ – ein zentraler Satz der Bibel und Zeugnis der nicht gelebten Spiritualität der Kirche, die sich auf Wahrheit und Dogmen versteift und den Weg wie das Leben missachtet hat.

 

Wer auf der WAHRHEIT, gemeißelt in Dogmen des kirchlichen Lehramts, beharrt, der muss das Lebendige in den Menschen unterdrücken und versperrt ihnen den Weg. („Ihr geht nicht hinein und lasst auch niemand hineingehen“). Religion wird zum kollektiven Ritual, der Einzelne und sein individuelles Erleben wird abgetötet.

 

Aber beginnen wir von vorne: Spiritualität beginnt da, wo das LEBEN beginnt. Im Mutterleib ist der Fötus geborgen, nicht mal er selbst, sondern Teil der Mutter ohne eigenes Bewusstsein. Das ist es, was in der Bibel das Paradies darstellt: Einheit mit dem Umfassenden, aber unbewusst.

 

Ist der Körper einigermaßen ausgebildet, wird das Kind geboren, in eine Welt hinausgeworfen, die fremd, kalt ist, und der es hilflos ausgeliefert ist. Aber es lebt noch in der Symbiose der Mutter. Sie ist für das Kind alles das, was wir mit dem „Begriff“ Gott verbinden. Dahinter gibt es noch den Vater, der aber noch keine ausgeprägte Rolle spielt. „Gott“ ist also zuerst Mutter – Geborgenheit, Wärme, Nahrung und Liebe. Nach und nach tritt auch der Vater auf – als Sorgender, Sicherheit und Regeln gebend. Die Eltern sind dem Kind das, was man als „Gott“ bezeichnet. Das Kind lebt ganz natürlich „im Schoß der Familie“ – und die ist insgesamt immer noch mehr weiblich als männlich. Das Kind redet von sich in der 3. Person, hat also noch kein Ich-Bewusstsein.

 

Mit etwa drei Jahren beginnt es, „Ich“ zu sagen, seine Eigenständigkeit zu begreifen. Es stellt sich der Welt gegenüber, die es – auch verbal – zu erobern beginnt. Das ist zugleich der Beginn einer langsamen Ablösung von den Eltern, die zunehmend nicht mehr als „göttlich“ erlebt werden. Dieses Wort hat nur in der ursprünglichen Einheit Sinn. Das Andere ist nun nicht mehr das lebendige Nest der Familie, sondern immer mehr eine tote, kalte, gebrochene Welt. Der Beginn des – notwendigen – Atheismus. „Gott“ ist nicht mehr die ursprüngliche Geborgenheit, sondern der Grund der Verzweiflung. Es ist und muss sein der Abschied vom Gott der Kindheit.

 

In der Pubertät beginnt sich die/der Jugendliche endgültig von den Eltern zu lösen und sich in Eigenständigkeit zu versuchen („Du sollst Vater und Mutter verlassen…“) und nach einem anderen Du zu suchen („… und einer Frau – einem Mann – anhangen“). Der pubertierende Jesus geht in Jerusalem verloren und wird erst nach drei Tagen im Tempel gefunden. „Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?“ Am Wort „Vater“ hängt das nächste Missverständnis der Amtskirche. Das Wort für „Vater“ war damals auch das Wort für „Ursprung“. Der Jugendliche muss seine Eltern verlassen, um seine Geborgenheit in einem Größeren zu finden, im Ursprung allen Lebens. Jesus konnte den noch mit „Abba“ anreden, weil in der damaligen Bilder- und Symbolsprache verständlich war, dass damit nicht der Vater, sondern der Ursprung gemeint war. („Du sollst niemand „Vater“ – Ursprung – nennen.“) Die Unkenntnis dieses Begriffs führt zu einer kindlichen bis kindischen Religion.

 

Die Geborgenheit in etwas Größerem findet der Jugendliche dann im anderen Geschlecht. Die Freundin, der Freund ist nun ALLES. Er soll nicht mehr von den Eltern abhängig sein, als inferiorer Teil eines Ganzen, sondern er soll seine eigene Entsprechung im Außen, in der Frau (im Mann) finden. Hat er Vater und Mutter nicht verlassen, wie es in der Bibel steht, ist also immer noch innerlich abhängig, findet er nur einen Mutter- oder Vaterersatz. Mit „Vater und Mutter verlassen und einer Frau (einem Mann) anhangen“ ist aber eine Beziehung auf Augenhöhe gemeint. Ist der andere nur Vater- oder Mutterersatz, muss er/sie diesen irgendwann auch verlassen, um wenigstens danach und mit einem neuen Partner er/sie selbst zu werden und fähig zu sein für eine wirkliche Partnerbeziehung.

 

An dieser Stelle wird klar, dass Religion im Leben stattfinden muss und nicht in einer abstrakten leblosen und weglosen „Wahrheit“. Spiritualität hat mit Sexualität zu tun, was man auch bei den Mystikern und besonders bei den Mystikerinnen sehen kann. Bei letzteren tritt Gott als Liebender, ja als Liebhaber auf. Man kann auch sehen, dass die Männer in einer patriarchalen Religion wie dem Christentum benachteiligt sind, weil Gott für sie nicht weiblich sein darf. „Er“ muss dem Mann aber in seiner weiblichen Gestalt entgegentreten können, um in dieser Phase Ergänzung zu sein. Daher sind auch mehr Männer unter den „Marienverehrern“. Wie soll ich denn auch Gott erfahren, wenn ich die lebendige Ekstase nicht erfahren darf?

Da aber der ganze Bereich des Geschlechtlichen in der amtlichen Religion ausgeblendet und unterdrückt werden muss, kann daraus nie eine erwachsene Religion werden. Das ursprüngliche Judentum hatte noch einen viel entspannteren Zugang zur Sexualität. Ein unverheirateter Rabbi war etwas völlig Undenkbares und Sexualität hatte noch mit Erkennen zu tun. Dieses Erkennen hat uns die Kirche gründlich ausgetrieben. Unendliches Leid war und ist die Folge.

 

Die Kirche ist in einer vorpubertären Phase steckengeblieben, in der noch das Überich (der Eltern, und damit auch eines „strafenden“ Gottes) in den Dogmen des Lehramtes den Ton angibt und sagt, was zu glauben ist und was zu tun ist und was nicht. Eine erwachsene Religion wäre eine individuelle Religion, in der es nicht um einen Glauben an das Dogma des „Lehramtes“ geht, sondern um die persönliche Erfahrung. Diese individuelle Erfahrung zu unterdrücken heißt aber, Spiritualität zu unterdrücken und einem kollektiven „Glauben“ zu unterwerfen. Das aber ist nicht Religion und nicht Spiritualität, sondern das Ende von Religion und Spiritualität.

 

Der Glaube an das Dogma ist nichts anderes als die Unterdrückung der individuellen Entwicklung und Reifung des Menschen. („Ihr geht nicht hinein und lasst auch niemand hineingehen.“). Das aber ist nicht nur die Verweigerung des WEGES, sondern auch die Abtötung des LEBENS, des LEBENDIGEN („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“). Der Jugendliche, der zu sich selbst gefunden hat (so man ihn ließe), findet „Gott“ nicht mehr in den Eltern, sondern im Lebenspartner. Dieser ist ihm nicht nur Anima/us, sondern auch innere Göttin/Gott.

 

Die Bibel will nicht erklären, wer Gott ist, sondern wie Menschsein geht (Matthias Beck). „Zur FREIHEIT hat euch Christus befreit“, sagt noch Paulus. Später wird dem Menschen diese Freiheit durch die Kirche radikal genommen. Die Anima des Mannes (C.G. Jung) enthält das ganze Spektrum des Weiblichen – von der Hure bis zur Göttin – im Mann (Umgekehrtes gilt für die Frau). Auf einem spirituellen Weg wird diese innere Anima in ihrer ganzen Bandbreite bewusst. Sie ist aber auch das, was nun anstelle der Eltern als „Gott“ erlebt werden soll, genauer gesagt, beim Mann als (innere) Göttin. Göttin deshalb, weil sie über alles Individuelle hinausgeht und das weibliche Prinzip der Schöpfung ausmacht (als Maha-Shakti, die Kraft und Dynamik der Schöpfung, wer sich in der asiatischen Terminologie auskennt). Sie ist das LEBEN in allen Wesen und Dingen.

 

Es genügt aber nicht die intellektuelle Vorwegnahme, sondern das muss erlebt werden. Wie das erlebt wird und wie der Zugang dazu ist, das ist bei jedem individuell verschieden. Daher helfen die (zugegeben schönen) Sätzchen der spirituellen Erfahrungen anderer so gut wie gar nicht. Wer sich an solche Sätze klammert, hat sich damit sogar ein Hindernis aufgebaut, weil er/sie glaubt, das ist es. Viele Esoteriker verbauen sich damit auch den WEG, den sie nicht beschreiben, sondern gehen sollten.

 

Im Laufe eines spirituellen Lebens (das den Weg vor die Wahrheit stellt, die erst erlebt werden muss), wird die Welt LEBENDIG. Die innere Göttin wird lebendig und erfahrbar – und in allen Wesen und Dingen ERLEBBAR. Erst über diesen weiblichen Aspekt der Schöpfung (der All-Liebe) kann der Mann dann auch den männlichen Aspekt (das schöpferische Sein) erfahren. Der umgekehrte Weg führt nicht zur Liebe, sondern zur Macht. Überdeutlich an der Kirche, die zwar die Liebe predigt, aber über den männlichen Gott nur die Macht vergöttert. Irgendwie weiß sie um die Symbolik und bezeichnet die Kirche als weiblich, es geht aber in der Spiritualität nicht um die Kollektivität der Kirche, sondern um konkrete – männliche und weibliche – Personen.

 

Erst am Ende des Weges kommt es zur Vereinigung der Gegensätze, zur chymischen Hochzeit von Königin und König. Der künftige Weg wird ein mystischer sein (Karl Rahner), ein individueller WEG, der im LEBEN zur WAHRHEIT führt. Und vorher von Wahrheit zu reden, ist sinnlos…

 

© RHarsieber

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ernst Richard Edinger (Montag, 13 April 2020 17:43)

    Die Kirche hat sich "erfolgreich" ein und zubetoniert. Dieser hat seit über 2000 Jahren Bestand und daran wird sich auch wohl so schnell nichts ändern.
    Leider.