Wissenschaft und Ideologie

Probleme der medizinischen Forschung am Beispiel der Traumatherapie

 

Da der menschliche Intellekt nicht gemacht ist, das Ganze zu erforschen, muss er sich Teilgebieten widmen. Die Wissenschaften fragmentieren das Ganze und jede erforscht einen Teil unter Ausschluss aller anderen. Jede isoliert ein Teilgebiet, das sich eigentlich nicht vom Ganzen isolieren lässt – und das ist das Dilemma der Wissenschaften. Daher hat z.B. die Physik nichts mit der Psychologie zu tun, obwohl es sich dabei quasi um die Außen- und Innenseite desselben handelt[1]. Physik beschäftigt sich mit der materiellen Außenwelt, die Psychologie mit der immateriellen Innenwelt. Heute befinden wir uns in der Schieflage, dass wir mit „Wissenschaft“ meist Naturwissenschaft, im Speziellen Physik meinen, so als wäre alles andere unwissenschaftlich. Diese Einstellung ist aber nicht mehr Wissenschaft, sondern bereits Ideologie.

 

 

Im Wissenschaftsbetrieb führt das dazu, dass von Seiten der Politik für die Naturwissenschaft Forschungsgelder bereitgestellt werden, für die Erforschung der Innenwelt schon sehr viel weniger. Und innerhalb der Psychologie gibt es den ebenso ideologischen Streit zwischen Psychoanalyse/Analytische Psychologie und Verhaltenstherapie, die noch eher durch den Blick von außen argumentiert werden kann.

 

Ein ganz spezielles Gebiet ist die Traumaforschung. Die begann in den USA, als die Kriegsveteranen des Vietnam-Krieges zurückkehrten und nicht mehr im „normalen“ Leben Fuß fassen konnten. Es wurde eine neue Diagnose formuliert: die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), und es zeigte sich, dass Psychotherapie in diesen Fällen nicht sehr erfolgreich war und ist. Später stellte sich heraus, dass diese Diagnose nicht so gut auf durch frühen Missbrauch traumatisierte Menschen passte. Es wurde von einem Expertengremium eine andere Diagnose vorgeschlagen, die es erlaubt hätte, die direkte Ursache anzugehen und nicht Einzeldiagnosen (Depression, Panikstörung, bipolare Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung) zu behandeln. Diese wurde als „complex PTBS“ bezeichnet Das wurde aber in die DSM-IV von 1994 nicht aufgenommen. „Bis heute, zwanzig Jahre und vier weitere Revisionen später, ignoriert das DSM und das gesamte auf ihm basierende System immer noch die Situation der Opfer von Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung im Kindesalter…“[2] Diese haben ganz andere Auswirkungen als Traumatisierungen im Erwachsenenalter.

 

 

In seinem Buch „Verkörperter Schrecken“ („The Body Keeps the Score“) beschreibt van der Kolk die verschiedenen Traumata und die verschiedensten Möglichkeiten der Heilung. Zunächst entdeckte man, dass Körpertherapien in diesen Fällen effektiver sind als Psychotherapien. Dann begann man die Schäden aufzuklären, die Traumata im Gehirn anrichten. Damit konnte man den Erfolg von Therapien messen. Meist geht im Gehirn die Verbindung zwischen rationalem Wahrnehmen und dem tiefer liegendem Alarmsystem verloren, sodass schon harmlose Situationen Panikreaktionen auslösen. Als jedoch die neu entdeckten Psychopharmaka die Psychiatrie eroberten, schwenkte die Psychiatrie auf die Pharmakotherapie um. Dass man damit die Symptome zwar mildern kann, sie aber zudeckt, statt zu heilen, wurde geflissentlich ignoriert. In der Folge hatten alle anderen Forschungsansätze plötzlich Schwierigkeiten an Forschungsgelder heranzukommen. Ohne entsprechende Geldmittel wird Forschung allerdings wesentlich erschwert. Es kam zu einer folgenschweren Symbiose von Ideologie, Politik und wirtschaftlichen Interessen.

 

 

Diejenigen Wissenschaftler, die andere – und erfolgversprechendere – Wege gingen, mussten nicht nur mit weniger Mitteln forschen, sondern ihre Ergebnisse, selbst wenn sie vielversprechend bis spektakulär waren, wurden und werden in der Öffentlichkeit nicht gehört und nicht anerkannt.

 

 

Wege in Richtung Heilung

 

 

Das Trauma lässt sprachlos werden. Traumatisierten ist es so gut wie unmöglich, ihre traumatischen Erlebnisse in Worte zu fassen, daher ist Psychotherapie so schwierig. Natürlich ist es wichtig, Worte zu finden für das Unaussprechliche, aber das ist nicht so einfach. Der Körper kann als Brücke dienen. Man kann sich selbst einen Brief schreiben, da kommt schon ein motorisches Moment hinein, das den inneren Zensor vorübergehend zurücktreten lässt. Ausdruckstherapien können hilfreich sein – Kunst, Musik, Tanz. Es geht ja darum, den Kontakt zum eigenen Körper wiederherzustellen. In der Folge wurden auch Yoga, Quigong und andere Körpertherapien in der Traumatherapie erfolgreich angewendet, erforscht und durch Neuroimaging evaluiert.

 

 

Eine eigenartige, aber wirksame Methode ist EMDR (Eye Movement Desensizitation and Reprocessing). Dabei soll man zu den traumatischen Ereignissen zurückkehren während man mit den Augen dem Zeigefinger des Therapeuten folgt, der etwa 30 cm vor den Augen langsam hin und her bewegt wird. Dabei tauchen innere Bilder auf, denen der Proband folgen soll. Damit kann es gelingen, traumatische Erlebnisse zu erinnern, zu integrieren und abzuschließen. Traumatische Erfahrungen führen als abgespaltene, nie modifizierte Bilder, Empfindungen und Gefühle ein Eigenleben. Durch EMDR kann es zu einer Integration dieser Bilder kommen, zu einer Umgestaltung alter Informationen in neue Zusammenhänge.

 

Die Assoziation an den REM-Schlaf, der von Augenbewegungen begleitet wird, und in dem wir Alltagserlebnisse verarbeiten, drängt sich auf. Heute wissen wir, dass im REM-Schlaf neue Assoziationen geweckt und neue Beziehungen zwischen nicht verbundenen Erinnerungen geschaffen werden (Stickgold und Hobson[3]). 

 

 

Man kann sich vorstellen, dass auch der „normale“ Geist des Menschen ein Mosaik aus verschiedensten Komponenten ist, das durch traumatische Erlebnisse auseinanderfällt und dissoziiert wird. Daher sind auch Methoden des Self-Leadership hilfreich. Dabei geht es darum, seine inneren Anteile kennenzulernen und wieder selbst die Zügel in die Hand zu nehmen. Das geht aber nur, wenn das Gesamtsystem sich wieder sicher fühlt. Dabei tritt selbstbestimmtes Handeln wieder an die Stelle hilfloser Passivität.

 

 

Das EEG hatte es ermöglicht, Gehirnwellen zu erforschen, damit auch Schlaf- und Bewusstseinsstadien. Mit dem quantitativen EEG (qEEG) konnte man überzeugend nachweisen, dass die DSM-Spezifikationen für psychische Erkrankungen nicht mit den spezifischen Mustern im EEG übereinstimmen. Mit dem sogenannten Alpha-Theta-Training kann man hypnagoge Zustände induzieren. „Herrschen im Gehirn Thetawellen vor, ist der Geist auf die innere Welt freifließender Imagination fokussiert. Alphawellen können als Brücke zwischen der äußeren und inneren Welt und umgekehrt fungieren.“[4] Zur Therapie wird es im Neurofeedback, bei dem das Gehirn angeregt wird, bestimmte Hirnwellen zu verstärken, andere abzuschwächen, wodurch neue Muster entstehen können. Eine Studie mit Neurofeedback bei Traumatisierten (Peniston und Kulkosky 1991) kam zu einem der besten Ergebnisse bei der Behandlung der PTBS, die jemals im Rahmen einer Studie erzielt worden waren.

 

 

Diese und andere Ergebnisse reflektierend, kam Frank Duffy zu dem Schluss, „dass Neurofeedback in vielen Bereichen therapeutischer Arbeit eine wichtige Rolle spielt. Ich nehme an, dass jedes Medikament, dessen Wirksamkeit man in so vielen Bereichen hätte nachweisen können, allgemein akzeptiert und reichlich genutzt würde.“[5]

 

 

Damit sind wir wieder beim gewaltigen Einfluss von Ideologie, Interessen und Politik auf die Medizin. So notwendig auch Medikamente sind, sie zeigen in vielen Fällen viel weniger Wirkung, die noch dazu nur die Symptome lindert und das Problem nicht lösen kann. Aber da die Pharmaindustrie – so notwendig sie auch ist, das soll hier nicht bestritten werden – das vorherrschende Paradigma der Medizin diktiert, wird auch in der Öffentlichkeit alles ausgeblendet, was nicht diesem Paradigma entspricht, auch wenn es sehr viel wirksamer ist als Medikamente.

 

 

Aber solange die Politik von Lobbys diktiert und von Menschen gemacht wird, die von Medizin – und dem in der Medizin eigentlich notwendigen umfassenden Menschenbild – kaum eine Ahnung haben, wird sich das auch nicht so schnell ändern. Wie Kant vom mündigen Menschen müsste man vom mündigen Patienten ausgehen, der aber informiert und gebildet sein müsste. Wer dazu die Aufklärung bemüht, müsste auch dazusagen, dass die damalige Radikallösung (durch die Guillotine) heute keine Lösung mehr sein kann, und dass die Aufklärung nicht damals vonstattenging, sondern auch heute noch ein Zukunftsprojekt ist.

 



[1] Siehe den Briefwechsel zwischen Wolfgang Pauli und C. G. Jung: C.A. Meier (Hrg.), Wolfgang Pauli und C.G. Jung. Ein Briefwechsel 1932-1958. Springer 1992

[2] Bessel van der Kolk: „Verkörperter Schrecken. Traumaspuren im Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. G.P. Probst Verlag, 6. Aufl. 2019, S 174

[3] A.a.O., S 311

[4] A.a.O., S 386 f.

[5] A.a.O., S 390