Ich und Welt

 

Gemäß unserer gewachsenen Struktur unserer Sprache und unseres Denkens erleben wir uns als Ich, das der Welt gegenüber steht. Wir bemerken dabei gar nicht, dass dies dem natürlichen Menschsein gar nicht entspricht. Ich und Welt sind untrennbar verflochten. Ohne Welt gäbe es gar kein Ich, und ohne Ich keine Welt.

 

 

Auch die Hirnforschung ist eine Sache der Perspektive. Es ist gut und schön zu erforschen, welche Hirnareale feuern bei welchen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen. Viel interessanter ist es aber, es zu erforschen, wenn es nicht „normal“ funktioniert. Daher kann man aus den Büchern des Neurologen Oliver Sacks über Extremfälle der neurologischen Praxis mehr über die Funktionsweise des Hirns lernen als aus der modernen Hirnforschung. Aber das nur so nebenbei.

 

 

Besonders aufschlussreich ist auch ein Fall, den Bessel van der Kolk, ein Traumaforscher, schildert[1]: Helen Keller verlor im Alter von 19 Monaten durch eine Infektion ihre Seh- und Hörfähigkeit. Das Kind war taub, blind und stumm – und wild, „eine unbändige und isolierte Kreatur“. Nach fünf Jahren der Verzweiflung lernte sie durch eine teilwiese stumme Lehrerin, Anne Sullivan, ihren Weg ins Leben zu finden. In zwei Büchern[2] schildert sie selbst, wie sie „in die Sprache hineingeboren“ wurde. Sie lernte das Fingeralphabet. Als es Ann auf diese Weise nach zehn Wochen gelang, das Wort „Wasser“ in eine Hand Helens zu buchstabieren, während sie ihre andere Hand unter fließendes Wasser hielt, erwachte gleichsam ihre Seele. Am selben Tag lernte sie noch viele Wörter.

 

 

Was war passiert? Helen lernte nicht nur, eine innere Repräsentation der Welt aufzubauen, sondern auch sich selbst zu finden. Sechs Monate später begann sie, von sich als „Ich“ zu sprechen. Vorher gab es keine Welt und kein Ich. Vorher hatte sie zwar ein „taktiles Gedächtnis“, aber kein Wissen. Sie hatte keine Möglichkeit der Mitteilung, sie war kein Teil einer Gemeinschaft. Sie war völlig isoliert – aber kein Ich! Mit acht Jahren konnte sie in einem Blindeninstitut zum ersten Mal mit anderen Kindern kommunizieren: „Was für ein Glück! Frei mit anderen Kindern reden zu können! Sich in der großen Welt zu Hause zu fühlen!“

 

Erst durch Kommunikation sind wir Ich und sind wir Teil der Welt, Teil eines Ganzen. Ohne Interaktion über die Sprache ist das nicht möglich. Ohne Resonanz sind wir nicht Teil der Welt, genauer: können wir nicht teilhaben an der Welt. Es ist kein Sein, sondern ein Werden, eine (Inter-) Aktion, ein Prozess. Die Sprache unterscheidet, um zu verbinden. Wenn diese verbindende Unterscheidung zur (Subjekt-Objekt-)Spaltung wird, entsteht die Illusion eines isolierten Ich, das der Welt gegenüber steht, und einer objektiven Welt ohne subjektive Perspektive.

 

 

Dass ein isoliertes Ich eine Illusion ist, zeigt das Beispiel Helen Kellers. Bevor sie Ich sagen konnte, war sie isoliert, aber kein Ich. Sich selbst finden und eine innere Repräsentation von Welt zu haben, geht Hand in Hand, ist dasselbe. Welt, die nicht Welt für mich ist, ist nicht Welt. Ich und Welt zu finden geht nur über Kommunikation, über die Sprache. Was wir nicht benennen können, ist nicht. Und über das Benennen finden wir uns selbst. Es ist kein Gegenüberstehen, sondern ein Anteilhaben an einem Ganzen, das man gar nicht trennen kann. Ohne das Verbindende, ohne Kommunikation, ohne Beziehung gibt es weder Ich noch Welt.

 

Psychische Probleme, die durch Traumata entstehen, sind isolierte und damit vergessene, verdrängte Seelenteile. Sie sind damit unbewusst, aber nicht abgeschlossen. Eine Psychotherapie besteht im Wesentlichen darin, die Probleme zu benennen, sie dem Vergessen zu entreißen und dem bewussten Ich wieder anzuschließen. Damit hat die Erzählung, und damit die Erfahrung einen Anfang und ein Ende und kann in die Biografie eingeordnet werden.

 

 

Eine philosophische Praxis kann keine Psychotherapie ersetzen, aber beim Benennen der Probleme helfen, neue Perspektiven eröffnen und gemeinsam über das Verhältnis oder die Beziehung zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und den anderen nachdenken. Was in einen größeren Zusammenhang gebracht werden kann, ist gut „aufgehoben“.

 

 

© R.Harsieber

 



[1] Bessel van der Kolk, Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann (Originaltitel: The Body Keeps the Score). G.P. Probst Verlag, 6. Aufl. 2019, S 218 f.

[2] H. Keller, The World I live in, Hg. R. Shattuck, New York: NYRB Classics 2004

    H. Keller, The Story of my Life, Hg. R. Shattuck & D. Herrmann, New York: Norton 2003

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0