Psyche und Welt

 

 

 

Von Albert Einstein bis Stephen Hawking waren und sind Physiker auf der Suche nach der einheitlichen Weltformel, einer theory of everything. Dass dies innerhalb der Physik unmöglich ist, hat allerdings schon Wolfgang Pauli festgestellt, als er meinte, nicht die Quantentheorie sei unvollständig, sondern die Physik als Ganze innerhalb des Lebens. Die Rechnung kann nicht ohne den Menschen aufgehen – und eine Weltformel nicht ohne die Innenwelt, die Dimension der Psychologie.

 

 

Albert Einstein war mehrere Male zu Gast bei C. G. Jung. Während aber Jung fasziniert war von den neuen Ideen der Relativitätstheorie, auch wenn er sie mathematisch nicht nachvollziehen konnte, so beschäftigte er sich doch ein Leben lang auch mit der modernen Physik. Umgekehrt schien sich Einstein nicht von der Analytischen Psychologie Jungs inspirieren zu lassen. Das lag wohl daran, dass er sich von einer unabhängig vom Subjekt beschreibbaren objektiven Welt nicht verabschieden wollte, wie es die entstehende Quantentheorie, zu der er Entscheidendes beigetragen hat, nahelegte.

 

 

Ganz anders der Physiker und ebenfalls Nobelpreisträger Wolfgang Pauli. In einer Lebenskrise begab er sich auf Anraten eines Freundes in die Therapie bei C.G. Jung. Der gab ihn im Bewusstsein seines Genies in die Obhut einer Schülerin. Nach Abschluss der Analyse wurde daraus eine Freundschaft zwischen dem Psychologen und dem Physiker, die sich in einem Briefwechsel über 26 Jahre niederschlug. Diese Begegnung wurde zu einer echten Zusammenarbeit.

 

 

Einstein suchte nach der „Weltformel“, weil für ihn die Quantentheorie unvollständig war, während für Pauli nicht die Quantentheorie, sondern die Physik als solche unvollständig ist und sein muss. Um zu den Naturgesetzen zu kommen, musste sich die Physik auf das Reproduzierbare und quantitativ Messbare beschränken. Wolfgang Pauli fasst zusammen: „Als Folge dieser im Wesen der Physik liegenden Beschränkung bleibt nicht nur alles Gefühlsmäßige, Wertende und Emotionale außerhalb ihrer auf der psychologischen Gegenseite, sondern aus dieser Wurzel entspringt auch der statistische Charakter ihrer Aussagen, der insbesondere bei den atomaren Vorgängen auf die Erfassung des Einzelfalles (abgesehen von Spezialfällen) grundsätzlich verzichten muss. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Unvollständigkeit der Quantentheorie innerhalb der Physik, sondern um eine Unvollständigkeit der Physik innerhalb des gesamten Lebens.[1] Eine „theory of everything“ kann keine Theorie der Welt, sondern müsste eine Theorie des Lebens sein.

 

 

So war Albert Einstein zwar fasziniert von der Idee einer einzigen Weltformel, ist an dieser Idee aber letztlich gescheitert, weil sein Weltbegriff offenbar zu eng war. Eine physikalische einheitliche Weltformel, selbst wenn sie gefunden wäre, könnte gar nicht die Einheit der „Welt“ beschreiben, weil – wie Erwin Schrödinger sagte – die „Welt“ mehr ist als Teilchen in Raum und Zeit, mehr als die Physik erfassen kann. Zur äußeren Welt gehört untrennbar die innere Welt, zur physikalischen Welt die psychische Wirklichkeit. Wendet man die Logik, die in der Quantentheorie liegt, darauf an, beziehen sich diese beiden Welten wieder komplementär aufeinander wie Teilchen und Welle. Die Vorarbeit dazu leisteten Wolfgang Pauli und C.G. Jung – nachzulesen in ihrem Briefwechsel. Wolfgang Pauli war fasziniert von der Idee einer – wie er es nannte – neutralen Sprache, die für Physik und Psychologie gleichermaßen anwendbar wäre. Er begründete dies mit der Annahme, dass die von Jung entdeckten Archetypen sich nicht nur in der Psyche, sondern auch in der Materie, nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Physik ausdrückten. Womit erst so etwas wie Synchronizität möglich wird. Damit kämen wir wirklich zu einer einheitlichen Sicht, so dass die Psyche die Innenseite der Welt, und die Welt die Außenseite der Psyche wäre.

 

 

Dynamische Sicht der Welt und der Psyche

 

Von der Gesellschaft unbemerkt eröffneten die Quantenphysik und die Analytische Psychologie eine völlig neue Sicht auf die Wirklichkeit. Die bisherige, im Wesentlichen aristotelische Logik wurde durchbrochen durch den nicht auflösbaren Welle-Teilchen-Dualismus und seine Komplementarität, durch eine grundlegende Nicht-Lokalität und das Unbewusste. Damit verbunden ist die Heisenberg‘sche Unbestimmtheitsrelation, die besagt, dass man von komplementären Werten nicht beide zugleich exakt messen kann. Das bis dahin statische Weltbild der klassischen Physik (und der Gesellschaft) wurde zu einem dynamischen. Man könnte sagen, dass letztendlich Heraklit mit seinem „panta rhei“ die Oberhand behielt.

 

 

Es gibt keine isolierten Teilchen, sondern nur Wechselwirkung. Die Objektivität wird aufgeweicht. Was in einem Experiment herauskommt, entscheidet die Versuchsanordnung. Statische Messwerte sind eine Abstraktion, weil das Messen das Gemessene verändert. Das Messen kreiert unsere lokalisierte Welt. Davor und hinter allem liegt eine Dimension der Nicht-Lokalität, die zu so unanschaulichen Phänomenen wie das der Verschränkung führt. Dies sind die wesentlichen neuen – für die gewohnte Logik absurden – neuen Entdeckungen der Physik.

 

 

Diese haben aber auch Entsprechungen in der sich zeitgleich entwickelnden Analytischen Psychologie C.G. Jungs. Dass es in der Psyche nicht um Teilchen geht, ist noch selbstverständlich. Es geht um Beziehung – von Ich und Selbst, bewusst und unbewusst – und damit nicht um bloß Subjektives, sondern um durchaus objektiv „Gegebenes“, das empirisch untersucht werden kann. Komplexe und Archetypen sind dynamische Faktoren, die nicht nur wirksam sind, sondern sich auch wandeln. Das Bewusstmachen, das Hinschauen – und auch das ist ein Messen – verändert die Situation. Die Archtetypen entspringen einer unanschaulichen Dimension des Unbewussten, die nicht mehr psychisch, sondern psychoid ist, und werden in inneren Bildern und archetypischen Vorstellungen zur Welt der Psyche. Dies erklärt das Phänomen der Synchronizität, der nicht kausal erklärbaren, aber sinnvollen Zusammenhänge von inneren Bildern und äußeren Ereignissen.

 

 

Damit geht es in beiden Disziplinen – Physik und Psychologie – um die Erweiterung unseres Weltbilds auf einen unanschaulichen Bereich (Nicht-Lokalität und Unbewusstes), um nicht mehr auflösbare Gegensätze, die aber nur zusammen die Wirklichkeit erklären können (Komplementarität – von Welle und Teilchen, von bewusst und unbewusst, männlich und weiblich, Ich und Selbst), wobei Niels Bohr ebenso wie C.G. Jung den Begriff „Komplementarität“ aus dem Daoismus (yin – yang) entlehnen, der das Entweder-Oder-Denken nicht kennt. Es geht um eine neue Dimension der Ganzheit, die Verschränkung und Synchronizität möglich macht.

 

In beiden Disziplinen löst eine dynamische Sicht das bisherige statische Weltbild ab, wodurch auch die Subjekt-Objekt-Spaltung obsolet wird. Materie und Energie sind äquivalent, im Mikrokosmos lösen sich die „Teilchen“ in nicht begrenzte Felder auf, fundamental sind nicht kleinste Teilchen, sondern Wechselwirkung und Beziehung – nicht Beziehung von etwas, sondern nur Beziehung. Komplexe und Archetypen sind nicht definierbare Entitäten, sondern feldartige Bedeutungswolken, nicht abgrenzbar und teilweise ineinander übergehend. Das Psychische ist Wirklichkeit, nur an Wirkungen erkennbar, dynamisch und wandelbar. Die „Landkarte der Seele“ mündet in der Entwicklung der Persönlichkeit, die Jung Individuation nennt, die zur Lebensaufgabe wird, an deren „Ende“ eine Ganzheit (das Selbst) steht, die über das Psychische hinausgeht. Die Archetypen sind dynamische Grundmuster, die im außen (Materie) und innen (Psyche) wirken. Zielvorstellung ist der unus mundus (die eine Welt des Ganzen, Jungs „theory of everything“) und das Selbst ist identisch mit der Gottesvorstellung, dem Archetypus der Ganzheit.

 

 

Individuation

 

Individuation ist Lebensaufgabe und Lebensprozess, den Jung in zwei gegenläufige Hälften teilt: In der ersten Lebenshälfte geht es um Ich-Werdung, in der zweiten um Selbst-Werdung, zuerst um Anpassung an die Außenwelt, dann um Integration der Innenwelt. Da es aber in der zweiten Lebenshälfte ums Ganze geht, geht es nicht nur um die Integration von bewusst/unbewusst, Anima/Animus, Ich/Selbst, sondern auch Innenwelt/Außenwelt – um die Vereinigung der Gegensätze – unus mundus.

 

Schon der Begriff der Archetypen übersteigt die Psyche. Der Prozess der Individuation erfordert eine Einsicht in die Grenzen des Ich und die Unbegrenztheit des Selbst; gleichzeitig in die Endlichkeit der fragmentierten Welt und die Unendlichkeit des Ganzen (das Selbst in seiner kosmischen Dimension). Das setzt aber auch eine Komplementarität von Materie und Psyche, Physik und Psychologie voraus, und das war auch das Thema der Zusammenarbeit zwischen Jung und Pauli. Die Psyche – das einzige, das uns unmittelbar zugänglich ist –umfasst ein Spektrum, das einerseits in die Materie, andererseits in den Geist mündet. Damit wird das Leben zum Kontinuum und die Individuation zur Aufgabe, nicht nur männlich und weiblich, sondern auch oben und unten zu verbinden. Wobei das nie statisch, sondern immer dynamisch zu sehen ist.

 

 

Synchronizität

 

Eine wichtige Funktion des Unbewussten ist für Jung die Kompensation. Dabei werden bewusste Haltungen oder Fehlhaltungen von den Archetypen aus dem Unbewussten her kompensiert und damit korrigiert. Die Archetypen sind dynamische Strukturen, die nicht psychisch, sondern psychoid sind, die in gewissem Sinne von außerhalb der Psyche kommen – auch wenn es keine konkrete Grenze für das Psychische gibt. Jung hat die Beobachtung gemacht, dass diese Kompensationen nicht nur in Träumen oder Fantasien aufsteigen, sondern sich auch in äußeren Situationen manifestieren können. Das sind Ereignisse, die nicht kausal, aber sinngemäß mit dem Inneren zusammenhängen. So kann das Auftreten archetypischer Bilder in Träumen mit äußeren Ereignissen zusammenfallen, was Jung Synchronizität nennt. Das heißt, dass die archetypischen Muster nicht nur innen, sondern auch außen wirken können.

 

 

Das Jenseits der Psyche muss also in irgendeiner Weise mit dem Jenseits der Materie zusammenfallen. Und so kommt auch Wolfgang Pauli zu dem Schluss, dass die Archetypen nicht nur in der Psyche, sondern auch im Bereich der Physik wirken. So ist es für Pauli nicht verwunderlich, dass einige „wichtige Begriffe in der Psychologie und in der Physik zugleich angewendet werden, ohne dass dies besonders beabsichtigt worden ist, wie Gleichartigkeit (Ähnlichkeit), Akausalität, Anordnung, Korrespondenz, Gegensatzpaar und Ganzheit.“[2]

 

 

Als Pauli dies schrieb, war die von Einstein vorhergesagte (und von ihm ungeliebte) „Verschränkung“ noch nicht experimentell erwiesen, kann aber als Analogie zur Synchronizität gesehen werden. Beide Phänomene sind nur akausal, instantan und nicht-lokal zu erklären. Verschränkung besagt, dass Teilchen aus einem gemeinsamen Ursprung, auch wenn sie Lichtjahre voneinander entfernt sind, nicht zwei sind, sondern sich wie eines verhalten. Das ist kausal nicht zu erklären, weil es keine Informationsübertragung gibt. Bei der Synchronizität sind es nicht Lichtjahre, die dazwischen und doch nicht dazwischen liegen, sondern die – in dem Fall nicht mehr unabhängig voneinander existierenden – Bereiche der Innen- und Außenwelt, des Unbewussten und der Nicht-Lokalität. Sie hängen ebenfalls nicht kausal, sondern ihrer Bedeutung nach zusammen.

 

Jung fügte damit der Relativität von Raum und Zeit (bezogen auf die Lichtgeschwindigkeit), die er mit Einstein diskutierte, die Relativität der Psyche (bezogen auf die ordnende Funktion des Selbst) hinzu. Eine Vereinheitlichung über die Grenzen der physikalischen Welt hinaus, womit Jung die Raum-Zeit Einsteins zur Raum-Zeit-Psyche erweiterte. Womit vielleicht der Grundstein für eine realistischere Theory of everything gelegt wurde. Die Geschichte der Physik ist eine fortlaufende Vereinheitlichung von Theorien, die vorher unabhängig voneinander existierten. Die analytische Psychologie kann man als eine Vereinheitlichung von Bewusstem und Unbewusstem, von Komplexen, Archetypen und schließlich von Psychischem und Psychoidem sehen. Das Ziel wäre eine Vereinheitlichung auch von Innen- und Außenwelt, von Psyche und Materie – letztlich von Psychologie, Physik und Metaphysik. Darum ging es in der Zusammenarbeit von Jung und Pauli.

 

 

Dabei geht es nicht um eine Parallele zur Äquivalenz von Materie und Energie (e = mc2) – das wäre noch klassische Physik und Relativitätstheorie – sondern um eine Komplementarität von außen und innen, Materie und Psyche, Physik und Psychologie. Die Psyche geht an ihren „Rändern“ in einen nicht-psychischen Bereich über, dessen Muster auch in der Außenwelt wirksam sind. Die Psyche geht auf der einen Seite ins Somatische über (Instinkte), auf der anderen Seite ins Geistige (analog Platons Ideen). Stellt man sich dieses Schema als Kreis vor, dann haben wir einen archetypischen Bereich, der sich in Psyche und Materie gleichermaßen ausdrücken kann. Das besagt aber auch, dass die Psyche nicht an die Grenzen von Raum und Zeit gebunden ist.

 

 

Hier geht die empirische Psychologie in die Philosophie, Metaphysik und Theologie über. Damit wird eine Einheit von Selbst (die über die Psyche hinausgehende Ganzheit der Psyche) und Sein, von Selbst und „Gott“ (eine Metapher für da Ganze) postuliert. In diesem Zusammenhang ist es stimmig, dass die Probleme von Menschen in der zweiten Lebenshälfte zu einem großen Teil religiöse Probleme sind (was nicht konfessionell gemeint ist, heute würde man von spirituellen Problemen reden). Allerdings lassen sich viele Menschen gar nicht auf diese Probleme ein, was auch ein Grund dafür ist, dass die Psychologie von C. G. Jung nicht die populärste ist. Wer in der Phase der Pubertät oder Adoleszenz stecken bleibt, hat diese Probleme nicht.

 

 

Sie können sich der Hybris der Ratio ergeben, sich der Religion Richard Dawkins anschließen, und die Fahne der Aufklärung vor sich hertragen – ignorierend, dass die Aufklärung das Irrationale nicht verdrängen konnte – siehe Französische Revolution! Diese Einstellung geht – zumindest nach Jung – an der Bestimmung der zweiten Lebenshälfte völlig vorbei, in der sich die Menschen bemühen sollten, „ihr rationales Ich-Bewusstsein mit dem nicht-rationalen kollektiven Unbewussten zu verbinden, ohne dabei freilich die rationale Position des Ich preiszugeben. Aus seiner [Jungs] Sicht besteht die psychologische Hauptaufgabe der zweiten Lebenshälfte darin, eine Weltanschauung, eine persönliche Lebensphilosophie, zu formulieren, die rationale und irrationale Elemente vereint.“[3]

 

 

Das ist ganz im Zeichen einer neuen Logik, die auch durch die Quantenphysik notwendig wird, und die das Entweder-Oder durch die Komplementariät ersetzt. Während in der aristotelischen Logik von zwei einander ausschließenden Gegensätzen immer eine Seite eliminiert werden muss (Satz vom ausgeschlossenen Dritten), bleiben die Gegensätze in der Komplementarität erhalten, es sind sogar beide Seiten notwendig, um die Wirklichkeit zu erklären. Dazu gehört der Teilchen-Welle-Dualismus der Quantenphysik genauso wie Außen- und Innenwelt, bewusst und unbewusst oder rational und irrational in der Sicht der Analytischen Psychologie.

 

Jung hat empirisch eine Landkarte der Seele erarbeitet, an deren Ende ein Bild der Wirklichkeit steht, die Psyche und Welt umfasst – womit die von den Physikern ersehnte Theory of everything nun als Vereinheitlichung von Physik und Psychologie aufleuchtet, ohne deren Eigenständigkeit preiszugeben. Es geht um ein Zusammenfallen der Grundmuster der Psyche mit Mustern und Prozessen der physikalischen Welt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus einem unanschaulichen Bereich kommen, der sich in der Physik in der Dimension der Nicht-Lokalität zeigt, in der Psychologie im Bereich des prinzipiell Unbewussten. Die Archetypen sind sozusagen die Naturgesetze der inneren Welt, aber auch Bindeglieder zwischen der Psyche und der physikalischen Welt. Diese beiden Bereiche (die aus gegensätzlicher Sicht zugänglich wurden) gehören komplementär zusammen und können, um die Dimension des Sinns erweitert, zu synchronistischen Ereignissen führen.

 

 

Messung und Bewusstsein

 

An der Idee von Esoterikern und sogar einzelnen Physikern, Quanten und Bewusstsein gleichzusetzen, kann man ermessen, wie schwer es ist, diese in Physik und Psychologie nahegelegte neue Logik zu „begreifen“. Im Doppelspaltversuch wird deutlich, dass das Ideal der klassischen Physik, die heilige Kuh der Objektivität (die selbst Einstein nicht preisgeben wollte), nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Das Experiment kann nicht mehr beschrieben werden, ohne die Versuchsanordnung einzubeziehen, durch die sich entweder Wellen- oder Teilchennatur zeigt. Allerdings, nach dieser (subjektiven) Entscheidung, welche Art des Experiments zum Tragen kommen soll, läuft alles weitere objektiv (ohne Einfluss eines Subjekts) ab. Das Experiment wird nicht vom Bewusstsein beeinflusst, auch wenn niemand im Labor ist, läuft das Experiment in genau gleicher Weise ab. Das heißt, die Objektivität wurde aufgeweicht, aber noch nicht verabschiedet, und mit einem Einfluss des Bewusstseins hat das gar nichts zu tun.

 

 

Was allerdings wichtig ist: Das Messen verändert das Gemessene – und das gilt nicht nur für die Quantentheorie, sondern ganz allgemein. Auch die Wahrnehmung ist ein Messen und  verändert das Wahrgenommene. Das heißt wiederum, dass es kein Wahrnehmen ohne Beteiligung des Subjekts gibt. Subjekt und Objekt sind in einem Wahrnehmungesfeld verbunden. Davon können Exekutive und Legislative ein Lied singen: Zeugenaussagen sind nicht ohne ein subjektives Element zu haben. Grob gesagt: Jeder hat etwas anderes gesehen. Die „objektive“ Welt ist eine Abstraktion, diese Welt ist immer subjektiv gefärbt.

 

 

Aus dem bisher Gesagten können wir ableiten, dass eine Trennung von Außen- und Innenwelt letztlich nicht möglich ist. Die Trennung (Subjekt-Objekt-Spaltung) ist Voraussetzung für das Bewusstsein, das immer ein Gegenüber braucht. Dahinter steht aber das Unbewusste, für das diese Trennung nicht existiert. Genauso wie es im physikalischen Bereich der Nicht-Lokalität keine Trennung (die nur für die Lokalität gilt) gibt. Diese beiden Bereiche (quasi einmal von außen, einmal von innen angesteuert) hängen zusammen. Es wäre naheliegend, dass es auch hier keine Trennung gibt. Das wäre dann eine realistischere Basis für eine Theory of everything: die Raum-Zeit erweitert zur Raum-Zeit-Psyche. Die Mystiker aller Kulturen würden diesem Konzept wahrscheinlich zustimmen.

 

 

Dekohärenz und Maya

 

Was in der Physik noch unklar ist, wäre die Frage, wo die Welt des Mikrokosmos in die Welt des Makro- oder Mesokosmos der Lebenswelt übergeht. Es wäre aber falsch, diese Grenzen in der Welt zu suchen, hat sich doch auch die Grenze zwischen innen und außen aufgelöst. Der Übergang liegt in der Dynamik. Im Doppelspaltversuch wird durch das Messen, durch welchen Spalt das „Teilchen“ gegangen ist, das feldartige Quantenphänomen zum Teilchen. Das nennt man im Standardmodell den Kollaps der Wellenfunktion, später dann Dekohärenz.

 

 

Man kann das Doppelspaltexperiment aber auch als Schlüsselexperiment für die menschliche Wahrnehmung sehen. Vor der Messung/Wahrnehmung sind Teilchen- und Wellenaspekt ununterscheidbar. Erst durch die Messung/Wahrnehmung zeigt sich die (reduzierte) teilchenartige Realität. Vor der Messung/Wahrnehmung „gibt“ es keine Dinge oder Objekte, sondern ein ungeteiltes Feld, das auch uns selbst enthält – und damit gibt es auch noch keine Subjekt-Objekt-Spaltung. Erst durch das messende/urteilende Wahrnehmen „entsteht“ die wahrgenommene Welt der Dinge und Objekte und des Subjekts. Wir „schaffen“ diese Welt nicht, sondern vermitteln ihr (unsere) Struktur. Das Strukturierende sind nach Jung und Pauli die Archetypen.

 

 

Die Frage, ob der Mond existiert, wenn niemand hinschaut, ist kindisch. Die Dekohärenz entsteht durch Wechselwirkung, nicht durch das Bewusstsein, sodass der Mond auch existiert, ohne dass jemand hinschaut. Bevor wir hinschauen, existiert die Welt als ungeteiltes Ganzes. Sie „existiert“, aber im Nebel des Unbewussten oder der Nicht-Lokalität. Das bewusste Hinschauen kreiert dann unsere Welt. Diese ist „objektiv“ (weil Struktur der einen und ganzen Welt) und subjektiv (weil immer von innen her gesehen und strukturiert) zugleich. Diesen subjektiven Faktor, der nicht zu eliminieren ist, nennt die indische Philosophie „Maya“, Illusion – im Sinne von: es ist, aber es ist nicht so, wie wir es sehen.

 

 

Jener Faktor, der den Schleier der Isis symbolisieren könnte, und der zugleich der Schlüssel zur „wahren“ Sicht der Welt ist, sind die Archetypen. Sie sind das Muster hinter der Innen- und Außenwelt gleichermaßen. Sie kristallisieren das Ungeteilte in die Welt und in die Psyche. Sie sind damit „Maya“ und zugleich der Weg aus der „Illusion“, denn es geht letztlich nicht um die statische Frage, wie die Welt und der Mensch ist, sondern um die Entwicklung des Menschen, die dynamische Individuation, die auch in der Vereinigung der Gegensätze besteht.

 

 

Anders gesagt: Erkenntnis führt über die Selbsterkenntnis – was ja auch schon in der Antike bekannt war. Erkenntnis ohne Selbsterkenntnis ist „Maya“. Selbsterkenntnis, die im Innen hängenbleibt und nicht das Außen einschließt, ist beziehungsunfähiger Narzissmus. Nur die Einsicht in die innere Ordnung führt zur Einsicht in die äußere Ordnung. Murray Stein fasst die Conclusio von Jungs Analytischer Psychologie zusammen[4]: „Denn der Archetyp ist nicht nur das Muster der Psyche, er reflektiert zugleich die Grundstruktur des Universums. ‚Wie oben, so unten‘, sagten die alten Weisen. ‚Wie innen, so außen‘, ergänzt der moderne Seelenforscher Carl Gustav Jung.

 



[1] C.A. Meier: „Wolfgang Pauli und C.G. Jung. Ein Briefwechsel 1932-1958“, Appendix 3, Springer Verlag 1992, S 192

[2] Pauli an Jung, Briefe, S. 67

[3] Murray Stein: C.G. Jungs Landkarte der Seele. Patmos Verlag, 10. Aufl. 2019, S. 240

[4] ebda, S 257