Eine Annäherung an das Böse

 

Die sogenannte Theodizee ist wohl das schwierigste Thema der Philosophie, weshalb ihm auch die meisten Philosophen eher aus dem Weg gehen und es der Theologie überlassen, die aber damit auch überfordert ist. Die Ontologie bedarf des Bösen nicht, denn Dinge sind nicht „böse“. Die Ethik wiederum, die sich mit dem Guten und Bösen beschäftigt, ist eine Perspektive, die nicht auf das Ganze eingehen muss. Womit sie dem Problem auch kaum gerecht werden kann.

 

 

Natürlich haben sich immer wieder Philosophen mit dem Thema beschäftigt, aber es zeigt sich hierin, dass auch die Philosophie – schon beginnend mit Aristoteles – den Weg der Wissenschaft, nämlich der Spezialisierung gegangen ist, zumindest in der Aufteilung der philosophischen Disziplinen. Damit ist das nächste Feld genannt, das kaum thematisiert wird, nämlich das des Teils und des Ganzen, das zwar hinter jeder Philosophie steht, aber doch meist im Dunkeln bleibt. Daher ist es nicht unbedingt überraschend, wenn ein Physiker Anfang des 20. Jahrhunderts dieses Feld thematisierte, nämlich Werner Heisenberg in „Der Teil und das Ganze“. Die (klassische) Physik hatte sich nämlich von der „physis“ der Antike ziemlich weit entfernt, und jetzt stand man plötzlich vor der Tatsache, dass ein gewisser Bezug zur Ganzen in der Quantenphysik wieder auftaucht.

 

 

Damit erhält die Physik der Teile und Teilsysteme wieder eine kosmologische Dimension, jedoch nicht bloß rein äußerlich in der Perspektive der Entstehung und Entwicklung des Kosmos, sondern auch „innerlich“, näherte man sich doch dem, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Hatte man noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach den „kleinsten Bausteinen der Welt“ gesucht, mit denen man dann die ganze „Welt“ erklären wollte, so stand man im beginnenden 20. Jahrhundert vor den Trümmern dieses materialistischen Weltbilds, als sich herausstellten, dass es solche kleinsten Bausteine gar nicht gibt. Je tiefer man in die Materie eindrang, desto mehr verschwand das Dinghafte und löste sich auf in Wechselwirkung und Beziehung.

 

 

Doch was hat das mit dem Bösen zu tun?

 

Im Juni 2018 hielt Konstantin Rößler[1] beim Thementag „Theologie trifft Therapie?“ (der Initialveranstaltung zur Gründung der C.G. Jung Gesellschaft Frankfurt) einen Vortrag zum Thema „Das Böse in uns“[2]. Darin kam Rößler zu dem Schluss, dass das, was wir in der Welt als „böse“ erleben, seine Quelle hat in den Gefühlen der Unzulänglichkeit, der Selbstablehnung und des Selbsthasses, die nach außen projiziert werden. Dahinter stehe als eigentliche Quelle die Beziehungsunfähigkeit „böser“ Menschen. „So entsteht das Böse nicht allein aus der Absicht, Böses zuzufügen, sondern wahrscheinlich viel häufiger aus dem Fehlen von Bezogenheit.

 

 

Wobei Rößler nicht bei der äußeren Beziehungsunfähigkeit zu anderen Menschen stehenbleibt, sondern diese auch auf den Mangel der Beziehung zu sich selbst zurückführt. „Die Beziehung zu anderen ist Abbild der Beziehung zu uns selbst.“ Damit liegt die Lösung des Problems nicht in der Bekämpfung des Bösen in der Welt, sondern in der Arbeit an der Beziehung zu uns selbst als Lebensaufgabe. C.G. Jung war der erste, der diese Lebensaufgabe als Individuationsprozess thematisierte.

 

Damit können wir den Faden der Physik auch wieder aufnehmen, die hinter der „objektiven“ Welt der Dinge eine Welt sichtbar oder ahnbar machte, in der Beziehung fundamentaler ist als Teilchen. Wer die Welt analysiert, d.h. sie in immer kleinere Teile zerlegt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem es gar keine „Teile“ mehr gibt, sondern eine unanschauliche Dimension der Nicht-Lokalität „hinter“ der Lokalität auftaucht. Dabei war die bisherige europäische Logik schon durch den Teilchen-Welle-Dualismus gesprengt, den Nils Bohr im Begriff der Komplementarität auflöste. Gegensätze, die als solche bestehen bleiben (wie eben Welle und Teilchen), aber nur zusammen ein Ganzes bilden und die Wirklichkeit beschreiben können.

 

 

Der Begriff der Komplementarität stammt aus dem Daoismus – einem Weltbild, in dem der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, und damit das Entweder-Oder keine Gültigkeit hat – und zeitgleich hat auch C.G. Jung diesen Begriff für die Analytische Psychologie eingeführt. Auch psychische Phänomene existieren in Gegensatzpaaren (bewusst-unbewusst, außen-innen, Persona-Schatten, das innere Kind-der/die alte Weise, usw.), die nur zusammen ein sinnvolles Ganzes ergeben. Außerdem entspricht der Bereich der Nicht-Lokalität der Physik dem Unbewussten in der Psychologie. Gemeinsam ist ihnen die prinzipielle Unanschaulichkeit.

 

 

Auch „gut-böse“ bildet so ein komplementäres Begriffspaar. Das eine ist nicht isoliert vom anderen und existiert nicht ohne das andere. Wo das Licht des Bewusstseins ist, ist der Schatten nicht weit, wenn auch im Unbewussten und meist nach außen projiziert. Daher ist das, was uns außen abstößt, das was wir selbst im eigenen Inneren nicht sehen wollen. Statt es innen zu integrieren, wird es im Außen bekämpft. Damit ist erklärt, was uns außen als „böse“ erscheint. Das erklärt aber noch nicht unbedingt das Böse-Sein.

 

Rößlers Erklärung ist da sehr einleuchtend. C.G. Jung hat als erster in dieser Detailliertheit die unbewusste Psyche beschrieben, und damit die Notwendigkeit der Bewusstwerdung der tieferen Dimensionen, der Individuation als lebenslanger Prozess. Man kann diesen dynamischen Prozess auch als in Beziehung Kommen mit sich selbst – letztlich mit dem Selbst als der Gesamtheit der Psyche, die über die Psyche hinausgeht – bezeichnen.

 

 

Das Ich löst sich aus dem Unbewussten, wird sich der Außenwelt als Gegenüber bewusst und muss sich in der Welt behaupten. Das geht nicht ohne Anpassung und Abstriche sowie Verdrängen alles dessen, was nicht ins Bild passt. Die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte wäre es, sich wieder nach innen zu wenden, sich der psychischen Strukturen und letztlich der treibenden Kraft hinter all diesen Entwicklungen, dem Selbst bewusst zu werden.

 

 

In diesem Lebensprozess kann an jedem Punkt der Entwicklung auch etwas misslingen. Angefangen von kindlichen Traumata über Fehlentwicklungen, die das Erwachsenwerden verhindern, bis zum Feststecken in der Außenwelt, die den Rückweg nach innen und den Sinn des Alters blockieren. All das kann als Mangel oder Blockierung der Beziehung zu sich selbst interpretiert werden, die zur Beziehungsunfähigkeit auch mit den anderen führt. So entsteht alles „Böse“ aus einem Mangel an Empathie. Man kann es auch als Fehlen der Beziehung zum Ganzen interpretieren, als Blindheit gegenüber der Tatsache, dass die „Welt“ inklusive Menschheit nur als Ganze existiert, das Bewusstsein aber Ein-Teilungen treffen muss, um sich zurechtzufinden. Wer aber dann Teile sieht statt Ein-Teilungen, der lebt bereits in einer potenziellen „Hölle“.

 

 

In der Quantentheorie entsteht erst durch Messung das, was wir als Teilchen wahrnehmen. Es entstammt aber der unteilbaren und unanschaulichen Welt der Nicht-Lokalität. Auch unser Wahrnehmen oder Sehen ist nichts anderes als ein Messen, das die Welt des Ganzen fragmentiert. Wahrnehmung ist nichts anderes als eine Einschränkung der Sicht, ein Ausklammern des Feldartigen der Wirklichkeit, die damit zu Dingen und Objekten erstarrt, „fest-gestellt“ wird. Das ist an sich nichts Böses, sondern eine Notwendigkeit des Bewusstseins, das immer ein Gegenüber und damit die Gegensätze braucht. „Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen“ nennt das die Bibel. Ein notwendiger Prozess, der erst dann „böse“ wird, wenn wir vergessen, dass die „Welt“ eine Ganze und die Ein-Teilung unsere eigene Aktivität ist. Die östliche Philosophie nennt dieses Vergessen „Maya“, Illusion.

 

Da wir im Laufe von 400 Jahren auf das Weltbild der klassischen Physik konditioniert sind (obwohl die Physik durch ihre Beschränkung auf das Messbare gar kein Weltbild liefern kann), leben wir in dieser Illusion einer gegenständlichen Welt, in der die Innenwelt gar nicht mehr existiert, weil das Ich auf einen logischen Punkt reduziert wurde. Damit ist der Zugang zur Innenwelt versperrt, eine Beziehung zu uns selbst gar nicht mehr möglich. Wir verharren immer noch in diesem illusionären Weltbild, obwohl die Physik (in der Quantentheorie) wie die Psychologie (in der Analytischen Psychologie C.G. Jungs) dieses Weltbild bereits vor 100 Jahren durchbrochen haben.

 

 

Kein Wunder also, wenn die Beziehungslosigkeit zum hervorstechendsten Merkmal unserer Zeit geworden ist. Kein Wunder auch, dass die Religionen an Attraktivität verloren haben, weil sie selbst ihre Bestimmung, diese Beziehung herzustellen oder aufrechtzuerhalten (religio = Rückbeziehung) nicht mehr nachkommen. Und da wir in einer Übergangszeit leben, vom unbewusst-Kollektiven zum bewusst-Individuellen, ist die alte Sprache der Volksreligion wirkungslos und muss abgestoßen werden. Statt Religion im Außen zu verorten (Gott als jenseitiges statt transzendentes inneres Wesen), müsste sie einen Weg nach innen eröffnen, und das geht nur über die Psychologie.

 

 

Man müsste auch den mythischen Kampf der Religionen gegen das Böse umleiten in einen Weg nach innen, der eine Beziehung zu sich selbst ermöglicht und damit auch eine Beziehung zu anderen und zu allem. Nur dies führt weg von der unsäglichen Ontologie des Seienden. Objekte erstarren zu Dingen, werden „fest-gestellt“. Damit geht die Dynamik verloren, und damit geht die Lebendigkeit verloren. Die Dinge der „objektiven“ Welt führen direkt in die Beziehungslosigkeit. Dinge sind verfügbar, objektivierte Menschen ebenfalls. Wer seinen Lebenspartner als Objekt seiner Wünsche sieht, verdinglicht ihn und macht ihn verfügbar.

 

 

Wir müssten eine Sprache finden, die weniger auf die statischen Entitäten von Subjekt und Objekt ausgerichtet ist, sondern auf die Dynamik des Werdens, des Entstehens und Vergehens. Wir müssten eine Sprache finden, die sich nicht an isolierten Dingen orientiert, sondern am Dazwischen – vom Teilchendenken zum Felddenken. Es ginge dann nicht um isolierte Objekte, sondern um Beziehung. Beziehung verbindet mich mit einer Person oder mit einem Objekt, das damit seinen Objektcharakter verliert.

 

Voraussetzung dafür ist die Beziehung zu mir selbst, zur psychischen Innenwelt. Dadurch werden Projektionen zurückgenommen. Das Fremde kann in mir selbst angeschaut werden und muss nicht im außen und im anderen festgemacht und bekämpft werden – wodurch z.B. der Fremdenhass obsolet wird. Diese Beziehung eröffnet die Vielfalt der Innenwelt, was wiederum zu einem Verständnis der Vielfalt im außen führt, die nicht mehr bekämpft werden muss.

 

 

Der Physiker Hans-Peter Dürr hat die radikalste Beschreibung von Beziehung geliefert: In seinen Vorträgen fällt irgendwann der Satz: „In der Welt der Elementarteilchen gibt es keine Teilchen mehr, sondern nur Beziehung; aber nicht Beziehung von etwas, sondern nur Beziehung.“ Damit wird deutlich, wie anders das Denken werden muss und wie schwierig das ist, aber auch, dass das noch mindestens Jahrzehnte dauern wird. Die notwendigen Veränderungen im Weltbild – das Herbert Pietschmann als Denkrahmen bezeichnet – sind gravierend, weshalb sowohl die Quantentheorie als auch die Analytische Psychologie einem allgemeinen Verständnis noch verschlossen bleiben.

 

 

Das ist aber ein Grund, warum das Böse in der Welt so absurd und unverständlich ist – oder als banal daherkommt. Die Antwort auf die Theodizee kann nur in der Psychologie liegen. Die wird aber von Atheisten wie der Kirche gleichermaßen abgelehnt, weil beide sich auf ein abstraktes Außen und auf ein dingliches, pseudo-naturwissenschaftliches Denken versteifen. Damit ist der Zugang zur Innenwelt verloren gegangen, den wir uns bewusst zurückerobern müssten. Das Böse kann nur durch Beziehungsfähigkeit aufgelöst werden. Für den Einzelnen ist das eine Lebensaufgabe (der Individuation), für die Gesellschaft wahrscheinlich eine Entwicklung von Jahrhunderten…

 

 

Die Individuation bei C.G. Jung ist die Rückkehr zum Ganzen, der Weg aus der Fragmentierung. Das fragmentierende Denken ist der (notwendige) Sündenfall in die Dualität und die Vielheit. Das bewusste Ich-Fragment wird aber immer getrieben vom unbewussten Ganzen, dem Selbst. das durch Kompensation immer gegensteuert, immer für Unruhe und Widerspruch sorgt. So wird das System am Leben erhalten: Leben ist Widerspruch. Der Prozess der Individuation verbindet Bewusstsein und Unbewusstes in eine neue Beziehung. Beziehung ist das wirklich Fundamentale von Psyche und Materie. Beziehung aber ist Liebe. Daher führt der Weg zur Überwindung des Bösen über die Beziehung zu sich selbst und zum anderen, über die Selbstliebe und Nächstenliebe.

 

 

 



[1] Konstantin Rößler, Arzt für Innere Medizin, Tiefenpsychologische Psychotherapie, Analytische Psychotherapie, Lehranalytiker am C.G. Jung Institut Stuttgart sowie 1. Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie

[2] „Wege zum Menschen. Zeitschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales Handeln“, 70. Jg., Heft 3, Mai/Juni 2019