Probleme lösen

 

Eine philosophische Praxis ist nicht dazu da, Theorien zu bilden, sondern Probleme zu lösen. Damit ist sie näher an der Psychologie, ohne selbst Psychotherapie zu sein.

 

Philosophische Praxis hat es mit Menschen zu tun. Eine banale Feststellung und doch bedeutungsvoll. Es geht um seine/ihre Probleme, und die sind – egal ob persönliche, private, berufliche, finanzielle oder Beziehungsprobleme – immer psychische Probleme. Denn letztlich ist die Psyche unsere Realität, weil sie das einzige ist, das uns unmittelbar zugänglich ist (C.G. Jung). Sie ist unmittelbare Realität. Das bedeutet aber auch, dass sie nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt ist, und das bedeutet wiederum, dass es nicht um eine abstrakt objektive Realität gehen kann. „Objektiv“ ist die Außenwelt, und uns geht es um die Innenwelt. Da wir aber auch die „Außenwelt“ nur durch die „Innenwelt“, die Psyche wahrnehmen, ist Objektivität ohnehin nur eine Abstraktion – und Wirklichkeit ist seelische Wirklichkeit. Selbst das Philosophieren ist als Denken eine psychische Tätigkeit, die als solche Gegenstand der Psychologie ist.

 

Wer Probleme hat, steht entweder vor einer schwierigen (oft ethischen) Entscheidung, die mit Unsicherheit verbunden ist, oder vor einer Bedrohung im weitesten Sinne (im beruflichen oder privaten Bereich, in einer Beziehung oder völlig unvorhergesehen). Beides verlangt eine Reaktion, und wir wissen nicht, wie wir reagieren sollen oder wir fühlen uns im Moment unfähig zu reagieren. Dieses Unvermögen oder Unwissen kommt aber daher, dass wir uns selbst nicht wirklich kennen. Daher erfordert jede Krise einen Weg nach innen, eine Umkehr der Blickrichtung. Die europäische Kultur ist im Wesentlichen ein Weg, die (äußere) Welt zu „erobern“, ein Weg nach außen. Das ist nicht sehr hilfreich, wenn es um Probleme geht, die nicht (nur) die äußere Welt betreffen. Was die Innenwelt betrifft – die eigentlich primär ist – sind wir Analphabeten geblieben. Sollen wir aber Probleme lösen, sind wir nach innen verwiesen.

 

Unser Weltbild lehnt sich seit fast 400 Jahren an die klassische Physik an. Physik ist die Erforschung der Außenwelt unter Ausschluss alles Subjektiven, d.h. der Innenwelt, des Psychischen. Aber auch die Physik kann nicht „Welt“ beschreiben, sondern nur ein Bild der Welt, d.h. auch „Welt“ ist unmittelbar nur in der Psyche. In der Sprache der Physik heißt das: Naturwissenschaft ist nicht die Beschreibung der Welt, sondern unseres Sehens der Welt (Werner Heisenberg).

 

Analog geht es in einer philosophischen Praxis, einer philosophischen Reflexion nicht um ein „objektives“ Problem, sondern um unser Sehen dieses Problems. Und viel ist damit erreicht, eine andere Perspektive zu erarbeiten, das Problem in einem anderen Licht sehen zu lernen.

 

In (m)einer philosophischen Praxis geht es auch nicht bloß um (logisches) Denken. Um Probleme zu lösen, bedarf es nicht der Logik, sondern der Fantasie. „Dasselbe ist Denken und Sein“, hieß es bei Parmenides in der Antike. Sokrates dagegen waren Theorien schnurzegal, er verhalf den Menschen dazu, ihre eigene Lösung zu finden. Das nannte man Hebammenkunst (Maieutik). Das heißt, nicht Denken ist Sein, sondern Leben ist Kunst – Lebenskunst. Denken findet meist statt unter Ausschluss des Fühlens, Empfindens und der Intuition. Fantasie kommt aus dem (unbewussten) Ganzen. Sie bringt das zutage, was dem bewussten Sein fehlt.

 

Im Leben geht es auch nicht um Wahrheit, sondern um Lebendigkeit, die immer Dynamik, immer ein Weg (und kein Sein) ist. Leider haben wir uns an ein völlig statisches Weltbild gewöhnt. Daher fragen wir immer, was ist – statt danach, was werden kann. Wir sind gewohnt, in Momentaufnahmen zu denken, aber das Leben lässt sich nicht fest-stellen. Leben ist Dynamik, ist Entwicklung. Was wir heute fest-stellen, ist morgen schon irrelevant.

 

Was philosophische Praxis leisten kann ist, etwas Festgefahrenes wieder in Bewegung zu bringen. Wie das geht, ist individuell verschieden. Manchmal braucht es den Blick auf das Gegenteil. Manchmal braucht es einen erweiterten Blick, einen neuen Horizont. Manchmal ist es notwendig, verkrustetes Denken oder Fühlen aufzulösen wie Salz im Wasser. Manchmal müssen nur die Gedanken freier werden, wie allzu Flüssiges, das verdampfen und frei werden kann. Und manchmal wird es notwendig sein, eine alte, gewohnte Sichtweise aufzugeben und loszulassen, damit eine neue entstehen kann. Aber immer geht es darum, mit neuen Perspektiven neue „Lebensgeister“ zu erwecken, die ureigenste Lebendigkeit wiederzugewinnen.

 

Im Osten (in Asien) wie im Westen (bei den Indianern) wurde das auch als der Weg des Kriegers bezeichnet. Denn Lebendigkeit erfordert Mut. Leben ist das, was den Widerspruch in sich enthält und aushält, sagt Hegel. Wir sind aber an eine Wissenschaftlichkeit konditioniert, die Eindeutigkeit und Reproduzierbarkeit verlangt. In der Natur und im Leben ist jedoch nichts eindeutig und alles einmalig. Wer leben will, muss sich mit Widersprüchen anfreunden, muss auch das Fremde, Dunkle, Verdrängte annehmen können. Das Leben belohnt dann mit einem weiteren Horizont, letztlich mit der Diversität in der Einheit des Ganzen.