Der Weg des Symbols

 

Natürlich müsste man vorausschicken – aber das impliziert der Symbolbegriff – dass der Mensch kein geschlossenes, sondern ein offenes System ist. Wie es überhaupt in der Natur keine geschlossenen Systeme gibt, weil alles zusammenhängt und ein Ganzes ist. Da wir aber keinen Sinn für das Ganze haben (oder diesen nicht verwenden?), müssen wir zum Wissenserwerb die Natur in Einzelteile zerlegen, ihre Komplexität reduzieren, um sie überschaubar zu machen. Dadurch wird immer etwas erkannt, und etwas anderes, und zwar das meiste, ausgeschlossen.

 

 

Historisch ist das der Übergang vom Mythos zum Logos, der sich in der Antike vollzog. Die mythischen Erzählungen sind symbolischer Natur und drücken immer dunkel ein Ganzes aus, die Wissenschaft, die sich daraus langsam herausgebildet hat, versucht, mit klar definierten Begriffen in Teilbereichen zu arbeiten. Im Mythos wird zwischen Außen- und Innenwelt noch nicht unterschieden. Der mythische Mensch erlebt seine Innenwelt in der Außenwelt.

 

 

Vom Mythos zum Logos

 

Die ersten (westlichen) Philosophen begannen dann, die Außenwelt getrennt zu erforschen. Das Symbolhafte wurde in die Innenwelt der Psyche zurückgedrängt. War der Logos anfangs noch ein dunkler, aber vieldimensionaler Begriff wie das chinesische Dao, so konkretisierte und verengte er sich nach und nach bis hin zur Logik. Diese kann mit Symbolen wenig anfangen, sondern braucht exakte Begriffe. Seither tun wir so, als ob es eine unabhängige Außenwelt gäbe, die begrifflich erfassbar wäre. Nur in der Alltagssprache hat sich diese Trennung nie ganz durchgesetzt, sie ist zumindest zum Teil noch immer psychosomatisch. „Mir ist etwas über die Leber gelaufen“ ist bildhaft und nicht wörtlich zu verstehen.

 

Nun haben wir Symbole, die dunkel und unklar ein Ganzes ausdrücken, die auf allen Ebenen bedeutsam und stimmig sind. Und daneben haben wir Begriffe, die exakt und klar Details ausdrücken sollen, die aber nie ein Ganzes benennen können. Und wir haben eine Sprachverwirrung, weil wir zwischen Symbol- und Begriffssprache nicht mehr unterscheiden können. Z.B. ist das geozentrische Weltbild ein symbolisches (das Materielle, umgeben vom Geistigen), das heliozentrische ein wissenschaftliches. Das erstere hat nichts mit den Himmelskörpern im modernen Sinne zu tun, das zweite hat nichts mit Symbolen und Bedeutungen zu tun.

 

 

Das Materielle, eingebettet in Psychisches und Geistiges gilt symbolisch immer noch. Aber auch das heliozentrische Weltbild kann symbolisch aufgefasst werden. Nicht mehr das Irdische, Materielle steht im Mittelpunkt, sondern das Geistige. Im symbolischen Sinne sind wir noch gar nicht wirklich beim heliozentrischen Weltbild angekommen.

 

 

Die komplementäre Wende um 1900

 

Die europäische Geschichte ist unter diesem Aspekt die sukzessive Eroberung der Außenwelt, die in der (klassischen) Physik mündet. Letztere verdrängt die Innenwelt, die zum Subjekt geschrumpft ist, völlig aus ihrem Gebiet. Es gilt nur mehr die heilige Kuh der Objektivität. Diese Situation spitzt sich bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert zu. 1900 ist dann ein (noch unbemerkter) Wendepunkt. Max Planck, dem sein Lehrer abgeraten hat, Physik zu studieren, weil da alles schon erforscht sei, läutet mit seinem Wirkungsquantum eine komplett neue Ära in der Physik ein, die alles Bisherige auf den Kopf stellt. Sigmund Freud datiert seine Traumdeutung auf 1900 und (wieder)entdeckt das Unbewusste. Damit stoßen Physik und Psychologie zeitgleich in ganz neue Bereiche vor. Niels Bohr entdeckt die Polarität von Teilchen und Welle, wofür er den Begriff der Komplementarität aus dem Chinesischen entlehnt. Ebenso und zeitgleich C.G. Jung, der von einer Komplementarität von Bewusstem und Unbewusstem spricht.

 

 

Bis dahin beschäftigte sich die Naturwissenschaft mit Objekten und Fakten, die Geisteswissenschaften mit Interpretationen. Nun werden die Grenzen fließend. Die Mathematik der Quantentheorie ist zwar exakt, sie muss aber interpretiert werden. Und auch nach 100 Jahren sind sich die Physiker über die Interpretation noch nicht einig, und sie werden es wahrscheinlich nie sein. Interpretationen lassen immer einen Spielraum offen. Physikalisch bedingt ein exakter Wert immer auch einen unbestimmten (Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation). Womit die von Einstein und später auch von Heisenberg angestrebte „Weltformel“ zum Ding der Unmöglichkeit wird.

 

 

Der Symbolbegriff bei C.G. Jung

 

C.G. Jung stand nun vor (s)einer Innenwelt, ohne den Kontakt zur Außenwelt und zum physischen Organismus zu verlieren. Er entdeckte die Archetypen, und fand deren Wirklichkeit nicht nur in der Innenwelt, sondern auch in den Mythen der Völker. Ein statisches Weltbild wäre hier unzureichend, es geht um die Dynamik der psychischen Energie, um Progression und Regression der Libido. Die Progression führt zur Anpassung an das Leben und an die Welt, die Regression führt ins Unbewusste zurück und mobilisiert innere Kräfte, die wiederum Neues kreieren können.

 

 

Symbole und Archetypen sind keine abgegrenzten Entitäten, sondern so etwas wie „Bedeutungswolken“, Überlagerung verschiedener Bedeutungen und Ebenen, Potenzialität, die in archetypischen Bildern individuell konkret werden. Sie sind auch von anderen Archetypen nicht klar abgegrenzt. Im Vordergrund steht nicht die Abgrenzung (Definition), sondern die Dynamik. In Analogie zur Physik geht es nicht um den Ort, sondern um den Impuls. Die Dynamik der psychischen Energie zu beschreiben muss den „Ort“, muss ein statisches Bild verschwimmen lassen.

 

 

Aber Jung kommt damit zu einer völlig neuen Kulturtheorie. Die Geschichte und Entwicklung des Menschen wird durch Archetypen angetrieben. Der Mensch muss aus dem verlorenen Paradies heraustreten, sich von der Symbiose mit der Mutter lösen, symbolisch die Mutter töten, um die Welt zu erobern. Dies kommt im Heldenmythos zum Ausdruck, der das Opfer der „Mutter“ erfordert. Ebenso tritt die Menschheit aus der Symbiose mit der „Mutter“ Natur heraus, in der sie noch nicht zwischen außen und innen, zwischen Ich und Welt unterscheidet (Animismus).

 

 

Die Archetypen sind die inneren Triebkräfte, unbewusste Gestaltungsprinzipien, die in den archetypischen Bildern ins Bewusstsein gehoben und bearbeitet werden können. Dabei kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen außen und innen, Bewusstem und Unbewusstem. Das Unbewusste liefert sozusagen immer neues Material. Das kann vom bewussten Ich angenommen und integriert werden oder es überfordern. Letzteres führt in die Regression, in einen früheren unbewussten Zustand.

 

 

Der Archetypus des Selbst und die Gottesvorstellungen

 

Jung entdeckt, dass es im Unbewussten ein subliminales Subjekt, eine innere Gestalt gibt, die ein größeres Wissen, Intentionalität und Willen zeigt, und quasi autark zu handeln imstande ist. Jung nennt es das Selbst, Mittelpunkt und Umfang der gesamten Psyche, die an der Peripherie ins Psychoide übergeht. Dort mündet es einerseits im Materiellen, andererseits im Geistigen. Dieses Selbst garantiert gleichsam, dass eine Regression ins Unbewusste kein Rückschritt sein muss, sondern Neues kreieren kann. Dieses Zusammenspiel von Ich und Selbst führt zur Individuation, zur Bestimmung des Menschen auf das Unendliche hin. Denn die Psyche ist kein geschlossenes System, sondern immer offen, und letztlich offen für das Ganze, für das Unendliche.

 

 

Der Archetypus des Selbst ist für Jung identisch mit den Gottesvorstellungen. Allerdings enthält das Selbst als Symbol der Gesamtpsyche quasi alles Menschliche und Göttliche, beinhaltet auch Anima/Animus, auch die Schattenanteile. Die archetypische Gottesvorstellung ist eine, die sozusagen die gesamte Oktave des Menschlichen umfasst. Nur im engeren Sinn sind es quasi die oberen Töne. Religionen blenden oft den unteren Bereich aus (wie das Christentum), oder es gibt männliche und weibliche (Anima/Animus), sanfte und schreckliche (Schatten) Manifestationen der Gottheit. Von daher ist es verständlich, dass z.B. die christliche Kirche nichts mit Psychologie am Hut hat, während Hinduismus, tibetischer Buddhismus oder Tantra nahezu psychologische Ausprägungen haben.

 

 

Allerdings ist die kirchliche Doktrin mit ihrem eigenen Ursprung nicht mehr kompatibel. Sie ist einseitig auf ein damit künstlich wirkendes Licht fixiert, und verdrängt den Schatten und die unteren Töne des Gottesbildes. Jesus dagegen zeigte, „wie Menschsein geht“ (Matthias Beck), und beschrieb sich selbst als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“. Die Kirche glaubt, sich im Licht der Wahrheit sonnen zu können, und ignoriert den Weg (den Heldenmythos) und das von Erotik (Anima/Animus) geprägte Leben, womit es zu keiner Vereinigung der Gegensätze in der Individuation kommen kann.

 

 

Religion und Individuation

 

Die Fixierung auf das Licht der Wahrheit, das abgekoppelt von ihrer Schattenseite zum Abglanz wird, führt dazu, dass der Heldenmythos in Hollywoodfilmen, Amokläufen und globalem Terrorismus ausgelebt wird. Dass eine unentwickelte Anima zum Missbrauch führt und die Schattenseiten der Erotik beklagt werden (Prostitution, Pornografie). Das sind unterdrückte archetypische Themen, die – weil verdrängt – umso vehementer an die Oberfläche drängen. Was nicht nur zu bedauern ist, sondern auf Ausgleich und Integration, und damit zu etwas gesundem Neuen drängt.

 

 

Individuation erfordert die Konfrontation mit dem Schatten, das sich Einlassen auf die gegengeschlechtliche Innerlichkeit in ihrem gesamten Spektrum und den Willen, an einer Gesamtpersönlichkeit zu bauen. Die Individuation muss sozusagen mit allen zur Verfügung stehenden Bausteinen der Psyche arbeiten, sie alle transformieren und an ihren Platz stellen, um nicht zu einer hellen Version unter Ausschluss alles anderen, sondern zu einem Gesamtbild zu kommen. Was den Gesamtbau zusammenhält, ist die All-Liebe, die Liebe zu allem und jedem, die aus der Anima, dem Animus erwächst, die nichts ausschließt, die alles einbezieht.

 

 

 

© R.Harsieber

 

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