Dynamik des Bewusstseins

Die Präphase (Ingrid Riedl) des Bewusstseins findet sich auch in der Kindheit der Menschheitsentwicklung, bei Naturvölkern, die noch nicht zwischen innen und außen unterscheiden. Das entsprechende Weltbild ist der Animismus, bei dem die Innenwelt genauso außen erlebt wird. Wobei nicht zu vergessen ist, dass auch Menschen in dieser Phase sehr weise sein können. Diese Menschen sind ja nicht „rückständig“, sondern leben in einer anderen Zeit. Die Frage, ob der Durchgang durch die Subjekt-Objekt-Spaltung für die Entwicklung des Menschen unbedingt notwendig ist, können wir offenlassen.

 

Jedenfalls folgt auf die vorbewusste Phase das Ich-Bewusstsein. Das Kind lernt, sich selbst von den anderen und von der Außenwelt zu unterscheiden. Es tritt aus der Symbiose mit der Mutter heraus und der Welt und den anderen gegenüber. Es wird dadurch erst beziehungsfähig. Um Beziehungen eingehen zu können, braucht es die Differenz zur Außenwelt und zum Du. Ohne diese Abgrenzung des Ich kann Welt nicht zur Umwelt und andere nicht zum Du werden. Erst durch diese Differenz wird (Wieder)Vereinigung möglich, deren Voraussetzung sie ist. Die Sehnsucht nach der Einheit bleibt auch in der Dualität immer aufrecht, mehr oder weniger bewusst.

 

 

Spaltung als Bedingung für Bewusstsein

 

Historisch hat die Subjekt-Objekt-Spaltung (Descartes) die klare Vorstellung von Bewusstsein, von Ich und von Subjekt gebracht. Descartes‘ Gedankengang war: Ich kann an allem zweifeln, bzw. durch alles kann ich getäuscht werden, nur eines kann ich nicht leugnen, dass ich mir dessen bewusst bin. Allerdings ist das eine bloß statische Auffassung von Bewusstsein, in der dessen Dynamik oder Beziehung gar nicht in den Blick kommt. Descartes begründete damit aber – gemeinsam mit Galilei und Newton – die Naturwissenschaft, die auf der Ausgrenzung des Subjekts und der Fragmentierung der Außenwelt basiert, und die bis heute unser gesamtes Leben und unser Weltbild bestimmt.

 

Wir sehen noch heute die Welt durch die Brille der Naturwissenschaft (eigentlich der klassischen Physik), obwohl diese sich gar nicht mit der Welt an sich, sondern einem Ausschnitt der Welt beschäftigt. Und das nicht direkt, sondern vermittelt durch konstruierte Modelle. Eine ähnliche Spaltung hat schon die Logik des Aristoteles bewirkt, bei der von Gegensätzen immer der eine eliminiert werden muss. Entweder – oder, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Schon dadurch wird jede Dynamik aus der Welt eliminiert, die ohne die Spannung der Gegensätze aus der Welt verschwindet. Wir leben in einer statischen Welt. Wir fragen, was ein Ding/Objekt IST, nie danach, wie es WIRD, wie es geworden ist und wie es sich weiterentwickelt. Denn, was ist, wird nicht, und was wird, ist nicht (Platon).

 

Durch diese konstruierte Statik wird uns die Spannung gar nicht bewusst, die im Leben und in der Wahrnehmung steckt. Auch die Subjekt-Objekt-Spaltung selbst ist nicht so statisch, wie sie erscheint, sondern enthält eine Dynamik, die aber nur in der Beziehung zum Ausdruck kommt. Wir denken zwar in der Subjekt-Objekt-Spaltung, die ein isoliertes Ich und eine vom Beobachter unabhängige Außenwelt suggeriert oder vortäuscht, die es aber letztlich nicht gibt. Was es gibt, ist Dynamik, ist die Spannung dazwischen, ist aufeinander Bezogenheit, ist Beziehung.

 

 

Sehnsucht nach Einheit

 

Zum Glück gibt es immer auch die Tendenz zum Ausgleich, die bewirkt, dass jeder einseitige oder extreme Zustand zum Gegenteil tendiert (Heraklit nannte das Enantiodromie = Gegenlauf). Das Pendel schlägt irgendwann immer in die Gegenrichtung aus. Das kann man sogar in der Physik beobachten. Descartes schlug auch vor, jedes Problem in seine Einzelteile zu zerlegen. Das tat in der Folge die Naturwissenschaft mit großem Erfolg. Sie zerlegte die Materie in immer kleinere Teile und suchte im 19. Jahrhundert nach den „kleinsten Bausteinen“ der Welt. Doch völlig unerwartet zeigte sich in der Welt des Kleinsten etwas ganz anderes. Die kleinsten Teilchen sind gar keine Teilchen, sie sind genauso gut Wellen oder eigentlich etwas völlig anderes. So zeigte sich ein bisher in der Naturwissenschat nicht vorkommendes Moment der Ganzheit: Ein Elementarteilchen ist nichts für sich, es ist nur in Wechselwirkung mit der Umwelt, letztlich mit allem. So schlug das fragmentierende Denken in der Welt des Kleinsten unfreiwillig um in ein Denken der Beziehung und Verbundenheit. Statt die kleinsten Teile zu finden, stieß man auf eine neue Dimension des Ganzen.

 

Dieses fragmentierende Denken äußerte sich auch in anderen Wissenschaften in einer zunehmenden Spezialisierung, in der man immer mehr von immer weniger weiß und zu voneinander isolierten Fachgebieten gelangt, wo einer vom anderen nichts mehr weiß. Die Sehnsucht nach Ausgleich und Vereinigung ist aber immer da, und so wurde die Interdisziplinarität modern. Auch wenn das meist noch so aussieht, dass verschiedene Fachbereiche zusammenkommen, jeder sein Statement abgibt und man wieder auseinandergeht.

 

 

Die Überwindung der Spaltung

 

Jedenfalls wurde der Grundstein für die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung bereits Anfang des 20 Jahrhunderts in der Quantentheorie und Tiefenpsychologie gelegt. Zeitgleich tauchte bei Niels Bohr und C.G. Jung der Begriff der Komplementarität auf, der ein neues Denken erfordert. Die Zeit danach kann aber als Latenzzeit der Geschichte betrachtet werden, denn der Begriff wurde (noch) nicht Allgemeingut.

 

Aber Umbrüche brauchen auch eine Übergangszeit. Im religiösen Bereich drückte sich die einseitige (aristotelische) Eliminierung des Gegensatzes in der Verdrängung des Negativen aus. Das Böse wird als Mangel an Gutem (Thomas v. Aquin: privatio boni) verniedlicht und verdrängt. Das führt direkt zur Ausgrenzung des Negativen und politisch zur Verfolgung des Anderen und Fremden im 30jährigen Krieg bis hin zu den beiden Weltkriegen. Die heutige Angst vor dem Fremden in uns und die Fremdenfeindlichkeit gehört ebenfalls hierher. Diese Phase der Weltgeschichte ist erst überwunden, wenn wir lernen, mit den Gegensätzen umzugehen, ohne eine Seite verdrängen zu müssen. Das geht nur durch Komplementarität, die Notwendigkeit beider gegensätzlichen Seiten für eine Beschreibung der ganzen Wirklichkeit.

 

 

Einheit im Gegensatz: Komplementarität

 

Es müsste so etwas wie eine Postphase des Bewusstseins (Ingrid Riedl) geben, in der die Spaltung aufgehoben ist. Das geht derzeit nur in Momenten, Einheitserlebnissen verschiedenster Art – von Augenblicken des Einsseins mit der Natur bis zum Samadhi/Satori in Yoga und Zen. Auf breiterer Basis müsste sich das gegenwärtige Weltbild total wandeln. Das fragmentierende Denken müsste abgelöst werden durch ein Denken, das zur Synthese fähig ist. Dazu müsste die Sicht der Welt als Ansammlung von Dingen und Objekten aufgegeben und durch eine Sicht der primären Beziehungen ersetzt werden. Nicht Teilchen oder „Atome“ sind das Fundamentale, sondern Wechselwirkung (im Materiellen) und Beziehung (im Lebendigen). Nicht Beziehung von etwas, sondern nur Beziehung (Hans-Peter Dürr). Elementarteilchen gibt es nur in Wechselwirkung. Außerhalb dieser sind sie nicht. Auch der Mensch ist nur in Beziehung, außerhalb kann er gar nicht existieren. Als isoliertes Ich wäre er nicht Mensch. Das heißt, es gibt gar keine isolierten Objekte oder Dinge, auch kein isoliertes Ich, sondern nur Beziehung. Alles ist eingebunden in einen Zusammenhang und ohne diesen ist nichts. Aus anderer Sicht: Es gibt auch nichts Statisches, sondern nur Dynamik.

 

Wäre diese Sicht (Komplementarität, Beziehung, Dynamik) internalisiert, dann gäbe es immer noch die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, innen und außen, weil es sonst kein Bewusstsein gibt. Bewusstsein braucht immer ein gegenüber, sonst gibt es auch keine Beziehung. Das Ich wird nur am Du zum Ich (Martin Buber), aber das Wesentliche dabei ist der Prozess des Werdens, nicht ein isoliertes Ich und Du. Beziehung ist vor allem ein Dazwischen. Aber in dieser bewussten Unterscheidung wäre gleichzeitig immer auch bewusst, dass Wirklichkeit nur ein Ganzes sein kann, ohne jegliche Trennung. Die Formel würde lauten: Unterscheiden ohne zu trennen (Herbert Pietschmann).

 

 

Im ganz Anderen zu sich Selbst

 

Wahrnehmung ist kein Abbilden eines Außen im Innen, sondern ein (gemeinsames) Wahrnehmungsfeld, das Hirn, Körper und Umwelt umfasst (Hans Jürgen Scheurle), die gar nicht zu trennen sind. Der Mensch ist immer ein über sich hinaus. Die Beschränkung auf ein isoliertes Ich, ein isoliertes Hirn, auf einen bloßen Körper wäre Beziehungslosigkeit und Tod.

 

Dieses neue Denken wirft auch ein ganz neues Licht auf Spiritualität. Diese – das Bedürfnis nach Religiosität, den Begriff Spiritualität gab es noch nicht – ist für C.G. Jung eine anthropologische Konstante. Psychologisch wäre ein Mensch ohne Spiritualität ein psychischer Torso, innerlich amputiert. Natürlich war Religion für Jung nicht institutions- oder konfessionsgebunden. Er hielt sich an die Bedeutung des Wortes re-ligio als Rückgebundenheit. Was zuallererst eine Rückbezogenheit auf die Psyche, ein zu-sich-selbst-Kommen bedeutet. Gott im Außen zu sehen objektiviert, verdinglicht ihn, so dass er biblisch zum goldenen Kalb wird. Im zu sich Kommen weitet sich das Ich zum Selbst, der innerseelischen Ganzheit, die Bewusstes und Unbewusstes umfasst und die Psyche öffnet hin zu einem größeren Ganzen. Im tiefsten Seelengrund finden wir das, was man „Gott“ nennt (Meister Eckehart). Wie man das nennt, ist dann eher gleichgültig.

 

© R. Harsieber