Das rettende Böse

Das rettende Böse

In der christlichen Tradition gibt es das von Augustinus stammende Wort von der „felix culpa“, der „glücklichen Schuld“, die zur Erlösung führt. Die „Sünde Adams“ als Grund und Voraussetzung für die Menschwerdung Christi. Auch andere greifen das Thema auf, wie etwa Meister Eckehart in seiner 4. Predigt: „…„dass Gott sogar lieber große Sünden vergibt  als  kleine. Und je größer sie sind, umso lieber und schneller vergibt er sie.“ Das wird als problematisch bezeichnet und kontrovers diskutiert, lässt sich aber biblisch untermauern: „Ich sage euch: Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.“ (Lk 15,1-10)

 

Die „Sünde“ als das, was von Schuld und von dem Bösen errettet, klingt erstmal ungewohnt. Aber tiefenpsychologisch geht es um das Thema des Schattens, um das Thema des Abgespaltenen. Um zu einem Erleben des Ganzen der Psyche, des Selbst in der Individuation zu kommen, muss auch der Schatten integriert werden. Wobei die Integration auch eine Verwandlung ist.

 

Aber bleiben wir zunächst beim Mythisch-Religiösen:

 

 

Wie kommt das Böse in die Welt?

 

Wie war die Welt (das Paradies) vor dem Sündenfall? Das kann wohl nur gedeutet werden in der Unterscheidung zum Zustand danach: „Sie sahen, dass sie nackt waren.“ Zum ersten Mal sah sich der Mensch selbst als Objekt, konnte er sich selbst als isoliert der Welt gegenüber sehen. Mit anderen Worten: Die Subjekt-Objekt-Spaltung war geboren als Ergebnis des Essens vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Vorher gab es kein Subjekt und keine Welt, nicht innen und außen, sondern Einheit, vorher gab es nicht Gut und Böse, sondern Einheit.

 

Nach dem „Sündenfall“ gab es das Böse, aber auch das Bestreben (in Mystik, Kontemplation, Meditation wie auch immer), im Einheitserleben des unis mundus (Jung, Alchemie), die Subjekt-Objekt-Spaltung aufzuheben und damit auch das Gut und Böse.

 

Das Böse ist der Schatten des Guten, mit dem es untrennbar, aber abgespalten, zusammengehört. Die Spaltung generiert die Gegensätze, aber in jedem Gegensatz ist auch das andere schon enthalten, wie in der chinesischen Monade, in der das Helle (Yin) etwas  vom Dunklen, und das Dunkle (Yang) etwas vom Hellen enthält. Es gibt nichts, das nur gut, und nichts, das nur schlecht oder böse wäre. Das Symbol von Yin und Yang ist aber auch ein dynamisches Zeichen, wie im Buch der Wandlungen (I Ging) deutlich wird. Heraklit nannte es enantiodromia: alles schlägt irgendwann in sein Gegenteil um. Panta rhei = „Alles fließt, wandelt und verwandelt sich in sein Gegenteil.“

 

 

Leugnung des Schattens und der Dynamik

 

Leider wurde im Christentum das Böse zunehmend als bloßes Fehlen des Guten (privatio boni bei Augustinus) verharmlost und so die Gegensätze nicht integriert, sondern verleugnet, verdrängt und als Folge bekämpft. Das Wegdenken des dunklen Pols führt zu seiner Verdrängung und zur Projektion nach außen – auf den Teufel im religiös-symbolischen und auf die anderen im profanen Denken. Verteufelt wird es in beiden Fällen.

 

Ebenso wird im europäischen Mainstream die Dynamik der Welt ignoriert. Das Ringen um die Frage nach dem Seienden lässt die Dynamik des Werdens im Schatten. Wir fragen gewöhnlich: Was ist das? Das Ergebnis ist immer ein statisches, isoliertes Objekt ohne Dynamik und ohne Beziehung zu uns selbst, zur Umwelt und zur Welt überhaupt. So charakterisieren Asiaten das europäische Denken als Subjekt-Objekt-Denken. In mythisch-religiöser Sprache ist es das Denken nach dem Sündenfall und der Erkenntnis (Unterscheidung) der Gegensätze.

 

 

Trennung und Sehnsucht nach Einheit

 

Erst die Unterscheidung und Trennung ermöglicht das Böse, vorher ist es nicht. Das Erkennen von Gut und Böse ermöglicht so etwas wie Sünde, das heißt Abgesondert-Sein. Das Erleben einer getrennten Außenwelt, die als bloße Ansammlung von Objekten und Dingen gesehen wird, isoliert gleichzeitig ein Ich, das sich von der Welt, von den anderen und vom eigenen Selbst absondert. Erst dieses isolierte Ich kann egoistisch sein und sich behaupten gegen die Welt und gegen andere. Und dieses Sich-Behaupten führt zum Konkurrenzdenken, zur Ablehnung alles Fremden bis hin zum Krieg, in dem man sich das Fremde als Fremdes einverleiben will in einer perversen „Einheit“.

 

Das Streben nach Einheit und nach Dynamik und Entwicklung blieb dem europäischen Denken inhärent, aber als Schatten, mehr oder weniger im Untergrund (Gnosis, Alchemie, Mystik, Esoterik…). Bei den Vertretern dieser Richtungen blieb das Streben nach Einheit mehr oder weniger bewusst und nicht im Schatten hängen. Dieses Streben nach Einheit kann aber als ganzes im Schatten bleiben und führt dann zu verschiedensten Ersatzbefriedigungen wie zur Sucht (Arbeits-, Sex-, Internet-, Drogensucht usw.). Auch in der Kriminalität geht es letztlich um Ausgrenzung (Konkurrenz, Rivalität, Mord) oder Einverleibung (Diebstahl, Steuerhinterziehung, Prostitution, Menschenhandel, mafioses Verhalten aller Schattierungen).

 

Und nebenbei gesagt: Wenn heute „politisch korrekt“ Asylwerbern ohne arbeiten zu dürfen nur erlaubt ist, in einem kleinen Zimmer gegen die Wand zu schauen, und sich jahrelang z.B. die brutale Ermordung ihrer Familie zu vergegenwärtigen, dann bleiben ihnen nur zwei Schattenmöglichkeiten: Kriminalität (wenn sie sich innerlich aufbäumen) oder Psychiatrie (wenn sie daran zerbrechen). Am Ergebnis nährt sich eine rechte Politik wie ein Moloch.

 

 

Isolation und Sprengen der Grenzen

 

Die heutige Welt hat die Cartesianische Spaltung perfektioniert, lebt in einer künstlich rationalen Welt, die alles Subjektive als Fantasie verleumdet und nur von allem Menschlichen entkleidete Fakten gelten lässt. Das führt – wie Yin und Yang zeigen, wie Heraklits enantiodromia – direkt ins Gegenteil, zur Tendenz, diesen zu engen Rahmens zu sprengen: Leichtgläubigkeit, Esoterik, Mystizismus, Drogensucht. Auch letztere ist nichts anderes als die Suche nach Bewusstseinserweiterung, nach dem Einheitserleben, nach ekstatischem Erleben – z.B. in Techno-Kulten oder durch Ecstasy. All das – was wir wieder als Junkies ins psychische Out verdrängen – ist nichts als der Versuch, gegen das nüchterne und rationale Schrebergartendenken zu revoltieren und es zu durchbrechen.

 

Somit kann man die gesamte Schattenwelt (Kriminalität, Mafia, organisiertes Verbrechen, Terrorismus, Gewalt, Menschenhandel, Prostitution, Drogenkriminalität) zurückführen auf die Erkenntnis des Guten und des Bösen, auf die Subjekt-Objekt-Spaltung. Der Mensch ist, symbolisch wie historisch und in der eigenen Menschwerdung aus einem Zustand der Einheit (mit dem großen Ganzen, aus der Symbiose mit der Mutter) herausgewachsen, lernt, sich als Ich zusehen, das der Welt und den anderen gegenübersteht.

 

 

Spaltung und Bewusstsein

 

Mit dem Ich-Sagen dämmert das Bewusstsein. Vorher waren wir geborgen im Ganzen und in der Einheit, aber nicht bewusst. Der „Sündenfall“ der Unterscheidung und Abgrenzung ist daher auch die notwendige Voraussetzung für Bewusstsein. Dieses braucht immer ein Gegenüber, kann nur in der Spannung des Innen und Außen, des Subjekts und Objekts entstehen. In symbolisch-religiöser Sprache: Der „Sündenfall“ ist notwendig für die Evolution des Menschen.

 

Daher die Rede von der „felix culpa“. Diese „glückliche Urschuld“ ist von außen gesehen die Subjekt-Objekt-Spaltung, von innen gesehen die Gebrochenheit der Psyche. Sie ist aber auch Ausgangspunkt für die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, nach der ursprünglichen Einheit und Ganzheit – allerdings in einem Post-Bewusstsein. Die ersehnte Vereinigung der Gegensätze kann erst kommen nach deren Trennung. Was als Trennung erscheint, muss als Unterscheidung erkannt werden, eine Unterscheidung, die das Ganze beschreibbar macht, aber nicht (mehr) fragmentiert.

 

 

Vom Entweder-Oder zur Komplementarität

 

Das fragmentierende Denken, das in der klassischen Physik perfektioniert wurde, muss erweitert und verwandelt werden in ein Denken der Komplementarität. Gegensätze müssen nicht aufgelöst werden, sondern erhalten bleiben, weil sie nur zusammen – wie Teilchen und Welle in der Quantenphysik – die Wirklichkeit bilden. Der Begriff der Komplementarität ist in Physik (Niels Bohr) und Psychologie (C.G. Jung) zeitgleich aufgetaucht, aber noch nicht Allgemeingut geworden. Das wäre aber eine notwendige Entwicklung, denn das Gegensatzdenken führt in letzter Konsequenz zu Krieg und Terror. Ohne den Begriff der Komplementarität wird Frieden nicht möglich.

 

Erst in einem derart erweiterten Denken muss der Gegensatz nicht eliminiert, das Böse nicht verdrängt werden. Nur im Gegensatzdenken gibt es überhaupt das Böse. Die „Erlösung“ des Bösen aus der Verdrängung und Projektion und dessen Integration verwandelt den Gegensatz in ein natürliches Ganzes. In der Einheit der Gegensätze (coincidentia oppositorum, unia mystica, unus mundus) ist dem Bösen der Stachel genommen, denn das Böse ist nur böse in der Absonderung (Sünde) vom Ganzen, in der Spaltung von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen, von Gut und Böse.

 

Gelingt diese Integration, dann ist das Fremde ist nicht fremd, sondern interessant. Der Andere muss nicht länger bekämpft werden, weil er zur Menschheit, und damit zu mir gehört. Das Böse ist entlarvt als Verdrängtes, Ausgegrenztes, Projiziertes und Bekämpftes. Wenn nichts mehr bekämpft werden muss, gibt es das Böse nicht mehr. Und die Frage, die Atheisten wie Religiöse umtreibt – Wie kann Gott das zulassen? – ist einfach nur falsch gestellt. Die Rettung oder Erlösung führt über das Böse, über die Zurücknahme der Verdrängung und Projektion. In einem Danken, das beide Pole als komplementär anerkennt und zulässt – und damit in eine größere Einheit und Ganzheit verwandelt.

 

© R. Harsieber

 

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